200 unbewusste Essensentscheidungen pro Tag? – Forscher räumen mit dem Mythos auf

Lange hielt sich der Mythos, wir träfen 200 Entscheidungen täglich über Essen. Forscher räumen damit auf und ändern die Sicht auf bewusste Ernährung.

Der Mythos der 200 täglichen Entscheidungen beim Essen

Was auf dem Tisch landet, ist selten Zufall – beim Essen entscheiden wir oft mit Kopf, Gefühl und Gewohnheit. © Pexels

Kein anderer Lebensbereich ist so eng mit Routinen, Emotionen und persönlichen Vorlieben verknüpft wie das Essen. Seit Jahren kursiert eine auffällige Zahl in Medien, Gesundheitsratgebern und Kampagnen: Mehr als 200 Entscheidungen in Bezug auf Essen treffe jeder Mensch täglich, meist unbemerkt. Doch wie viel davon geschieht unbewusst oder doch mit Absicht? Forscher des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin haben diese Zahl untersucht und sehen darin einen irreführenden Mythos.

Zahl kommt durch Denkfehler zustande

Die viel zitierte Zahl geht auf eine US-Studie aus dem Jahr 2007 zurück. Teilnehmer sollten zunächst schätzen, wie oft sie täglich über Essen und Trinken nachdenken – im Schnitt 14 Mal. Danach listeten sie Entscheidungen pro Mahlzeit auf: Was, wann, wie viel, wo und mit wem. Diese Angaben multiplizierten die Autoren mit der durchschnittlichen Zahl an Mahlzeiten, Snacks und Getränken pro Tag. So entstand der Durchschnitt von 226,7 Entscheidungen am Tag.

Die Methode überzeugt wissenschaftlich nicht. Das Forschungsteam aus Berlin sieht darin ein Beispiel für den sogenannten Subadditivitätseffekt. Dieser kognitive Denkfehler führt dazu, dass Menschen bei einzelnen Detailfragen höhere Werte angeben als bei einer Gesamtfrage. „Diese Zahl vermittelt ein verzerrtes Bild davon, wie Menschen Entscheidungen über ihre Nahrungsaufnahme treffen“, erklärt Psychologin Maria Almudena Claassen, Mitautorin der Untersuchung.

Automatismus statt Kontrolle? – Eine irreführende Botschaft

Claassen warnt vor den Folgen solcher Aussagen. „Du kannst gar nicht anders, du entscheidest sowieso nur automatisch“ – so lautete sinngemäß die Schlussfolgerung der ursprünglichen Studie. Dieses Bild könne das Vertrauen in die eigene Entscheidungskraft schwächen und gesunde Ernährung unnötig erschweren.

Gerade Menschen, die mit Gewicht, Ernährung oder Gesundheit kämpfen, empfinden solche Aussagen oft als entmutigend. Wer sich überfordert fühlt, greift schneller zu Fertiggerichten oder Süßigkeiten. Dabei treffen viele sehr wohl bewusste Entscheidungen – vielleicht nicht immer optimal, aber zielgerichtet.

Ziele, Werte und Umstände zählen

Ernährung ist mehr als eine spontane Reaktion. Sie ist oft Ausdruck persönlicher Werte. Wer abnehmen möchte, wählt bewusst Gemüse statt Pasta. Wer auf Nachhaltigkeit achtet, entscheidet sich gegen Fleisch. Solche Entscheidungen lassen sich nicht auf eine statistische Zahl reduzieren. Sie hängen vom sozialen, emotionalen und situativen Kontext ab.

Was zählt als Essensentscheidung? Essensentscheidungen sind nur dann sinnvoll, wenn man den Kontext kennt, in dem sie getroffen wurden. © Pietro Nickl / Max-Planck-Institut
Was zählt als Essensentscheidung? Essensentscheidungen sind nur dann sinnvoll, wenn man den Kontext kennt, in dem sie getroffen wurden. © Pietro Nickl / Max-Planck-Institut

Laut der Studie sind Entscheidungen über Essen nur dann verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit Lebensstil und Zielen betrachtet. Deshalb plädieren sie für bessere Messmethoden in der Forschung.

Entscheidungen brauchen Kontext

Um das Entscheidungsverhalten rund ums Essen genauer zu erfassen, braucht es eine Kombination verschiedener Methoden. Dazu zählen Tagebuchstudien, digitale Selbstbeobachtungen und persönliche Interviews.

Magische Zahlen wie die angeblichen 200 Essensentscheidungen sagen wenig über die Psychologie solcher Entscheidungen aus.

Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut

Ein differenzierter Blick helfe nicht nur der Wissenschaft, sondern auch den Betroffenen selbst. Wer die Mechanismen hinter seinen Essensentscheidungen versteht, erkennt eigene Muster schneller und kann sie gezielt verändern.

Self-Nudging bringt Kontrolle zurück

Ein Ansatz, der dabei hilft, heißt Self-Nudging. Die Idee: Menschen gestalten ihre Umgebung so, dass gesündere Entscheidungen leichter fallen. Ein sichtbar platzierter Obstteller oder versteckte Süßigkeiten wirken ohne Zwang, aber mit Struktur.

Self-Nudging gehört zum sogenannten Boosting-Ansatz. Er will nicht lenken, sondern stärken. Statt auf äußere Reize zu setzen, geht es darum, die eigene Entscheidungskompetenz im Alltag zu fördern. Wer sich selbst gut kennt, braucht keine dauerhafte Selbstkontrolle, sondern eine unterstützende Umgebung.

Alltagstaugliche Strategien helfen beim bewussten Umdenken

Entscheidend ist nicht, wie viele Entscheidungen täglich getroffen werden, sondern wie gut sie zu den eigenen Zielen passen. Wer sein Umfeld aktiv anpasst, gewinnt Handlungsspielraum zurück. Gesunde Routinen entstehen nicht durch Zählwerte, sondern durch bewusste Strukturen.

Die Forscher des Max-Planck-Instituts machen deutlich: Vereinfachte Zahlen helfen nicht weiter. Was zählt, ist ein realistischer, informierter Blick auf das eigene Verhalten. Wer seine Entscheidungen versteht, trifft bessere – auch beim Essen.

Kurz zusammengefasst:

  • Die weit verbreitete Zahl von 200 täglichen Essensentscheidungen basiert auf einer fehlerhaften Rechenmethode und einem psychologischen Denkfehler.
  • Entscheidungen über Essen entstehen nicht automatisch, sondern hängen vom sozialen, emotionalen und persönlichen Kontext ab.
  • Wer seine Umgebung bewusst gestaltet (Self-Nudging), kann gesunde Entscheidungen im Alltag wirksam unterstützen.

Übrigens: Das Belohnungssystem im Gehirn kann durch starkes Übergewicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Ein fehlender Botenstoff raubt vielen Betroffenen den Genuss am Essen – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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