Vergessene „Geisterpopulation“ formte unsere DNA – und unser Denken
Vor 300.000 Jahren mischten sich zwei Menschengruppen. Ihr Erbe beeinflusst unser Gehirn bis heute.

Auch der Homo erectus könnte zu den damaligen Menschengruppen gehört haben. © Wikimedia
Woher kommen wir eigentlich? Diese Frage stellen sich nicht nur Forscher, sondern auch viele Menschen im Alltag. Eine neue Cambridge-Studie bringt jetzt überraschende Antworten – und sie beginnt mit zwei Menschengruppen, die vor über einer Million Jahren lebten. Ihre Gene finden sich bis heute in uns allen. Und sie könnten nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Gehirn mitgeprägt haben.
Ein Forschungsteam rund um den britischen Genetiker Richard Durbin hat mithilfe eines Computerprogramms die Geschichte unserer DNA entschlüsselt. Das Modell heißt Cobraa. Es vergleicht Erbgutdaten aus vielen Ländern der Welt und errechnet, wie sich die Menschen früher fortgepflanzt und vermischt haben könnten. Dabei zeigte sich: Vor etwa 1,5 Millionen Jahren trennten sich zwei Menschengruppen. 300.000 Jahre vor heute kamen sie wieder zusammen. Diese Vermischung prägte unsere heutige genetische Ausstattung besonders stark.
Zwei alte Linien treffen sich wieder
Laut dem Standard untersuchte das Team nicht etwa Fossilien, sondern das vollständige Erbgut lebender Menschen. Die beiden Menschengruppen nannten die Forscher einfach „A“ und „B“. Gruppe A entstand aus einer kleinen Abspaltung von B. Weil A anfangs sehr wenige Mitglieder hatte, war ihre genetische Vielfalt gering. Doch sie wuchs mit der Zeit.
Als sich A und B vor rund 300.000 Jahren wieder vermischten, steuerte A rund 80 Prozent zur gemeinsamen DNA bei, B etwa 20 Prozent. Die Vermischung von A und B führte also zu einem sehr unausgewogenen genetischen Erbe – A dominierte deutlich. Das deutet darauf hin, dass A entweder die zahlenmäßig größere Gruppe war, sich besser an die Umwelt anpasste oder aus anderen Gründen einen stärkeren genetischen Einfluss hatte als B.
Neandertaler und Denisovaner kamen wohl aus Gruppe A
Laut der Untersuchung stammen auch die Neandertaler und Denisovaner – zwei ausgestorbene Menschenarten – sehr wahrscheinlich aus einer Untergruppe von A. Sie lebten später in Europa und Asien. Menschen mit eurasischen Vorfahren tragen deshalb heute noch kleine Teile ihrer DNA in sich.
Innerhalb von A entwickelten sich im Laufe der Zeit weitere Gruppen. Dazu zählen etwa die Vorfahren der Khoisan, die heute in Südafrika leben. Auch viele Menschen aus Westafrika haben Wurzeln in dieser Linie. Der Unterschied zu anderen Afrikanern liegt vor allem darin, dass sie seltener Kontakt zu den Menschen hatten, die Afrika vor etwa 70.000 Jahren verließen und sich auf anderen Kontinenten verbreiteten.
Menschengruppen sind genetisch kaum unterscheidbar
Trotz dieser komplizierten Entwicklung sind die genetischen Unterschiede zwischen den heutigen Menschen sehr gering. Das betont auch der Paläoanthropologe Ron Pinhasi von der Universität Wien, der nicht an der Studie beteiligt war. Er erklärt: „Nichtafrikanische Menschen sind afrikanischen in jeder Hinsicht sehr nahe.“ Der Unterschied liege nur darin, dass die ausgewanderten Gruppen aus wenigen Menschen bestanden. Sie trugen deshalb weniger genetische Vielfalt in sich.
Aus den Daten lasse sich auch nicht ableiten, dass es so etwas wie biologische Menschenrassen gibt. Die Unterschiede sind schlicht zu klein. Ein Diagramm zeigt zum Beispiel, dass europäische und asiatische Gruppen innerhalb der genetischen Spannbreite afrikanischer Gruppen liegen.
Alte Gene könnten unser Denken beeinflussen
Besonders spannend ist die Frage, was die Gene der Gruppe B bewirken. Laut dem Standard fand das Team Hinweise darauf, dass manche dieser DNA-Abschnitte mit der Funktion von Nerven und Gehirn zusammenhängen. Erstautor Trevor Cousins sagt: „Sie könnten eine wichtige Rolle in der menschlichen Entwicklung gespielt haben.“
Ron Pinhasi erklärt, es sei denkbar, dass diese Vermischung die kognitive Entwicklung des Homo sapiens beschleunigte. Gemeint ist damit nicht die Größe des Gehirns, sondern seine Leistungsfähigkeit und die Art, wie es arbeitet. Beweise dafür fehlen noch, aber die These steht nun im Raum.
Nur ein Modell – aber ein spannendes
Das Forschungsteam betont, dass es sich um ein mathematisches Modell handelt, nicht um eine bewiesene Tatsache. Es zeigt eine mögliche Erklärung für die gesammelten Daten. Ob und wie diese Theorie durch echte Fossilien belegt werden kann, ist noch offen. Vielleicht passen Arten wie Homo erectus oder Homo heidelbergensis in das Bild – beide lebten damals in Afrika und Eurasien.
Pinhasi warnt davor, zu viel hineinzuinterpretieren: „Diese Arbeit ist sehr abstrakt.“ Doch sie bietet neue Denkanstöße.
Geisterpopulationen in unserer DNA
Die verwendeten Erbgutdaten stammen aus internationalen Forschungsprojekten, die indigene und abgelegene Bevölkerungen mit einbezogen. Mithilfe neuer Methoden konnte Cobraa Veränderungen in alten Menschengruppen sichtbar machen. Das gelang erst jetzt, weil die Technik sich stark weiterentwickelt hat.
Richard Durbin sagt dazu:
Unsere Forschung zeigt, dass unsere evolutionären Ursprünge komplexer sind als bisher gedacht.
Richard Durbin
Auch bei anderen Tieren wie Gorillas oder Delfinen wurden solche „Geisterpopulationen“ entdeckt – also Gruppen, die genetisch Spuren hinterlassen haben, von denen es aber keine Fossilien gibt. Erstautor Cousins erklärt: „Genetischer Austausch zwischen Arten war vermutlich ganz normal – auch beim Menschen.“
Kurz zusammengefasst:
- Zwei uralte Menschengruppen, die sich vor etwa 1,5 Millionen Jahren trennten, vermischten sich vor rund 300.000 Jahren erneut – ihre Gene finden sich bis heute in allen Menschen.
- Der größere Anteil unserer DNA stammt von einer dieser Gruppen, doch die kleinere könnte unser Gehirn und Denken besonders stark beeinflusst haben.
- Die Studie basiert auf einem mathematischen Modell und zeigt: Menschliche Entwicklung verlief nicht geradlinig, sondern durch wiederholte Vermischungen verschiedener Gruppen.
Bild: © Jakub Hałun via Wikimedia unter CC BY 4.0
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