Niemand erinnert sich an seine ersten Lebensjahre – Forscher wollen wissen, warum
Warum uns die ersten Lebensjahre unserer Kindheit im Gedächtnis fehlen – eine neue Studie liefert Hinweise.

Wir erinnern uns nicht an unsere frühe Kindheit, obwohl das Gehirn alles gespeichert hat. © Pexels
Wie war das erste Lächeln, der erste Schritt, der erste Geburtstag? Fast niemand kann sich daran erinnern. Die frühen Jahre unseres Lebens sind wie aus dem Gedächtnis gelöscht. Warum verlieren wir ausgerechnet die Erinnerungen an unsere Kindheit? Eine neue Studie aus den USA geht dieser Frage auf den Grund und liefert überraschende Antworten.
Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren bleiben uns verborgen
Die meisten Menschen haben keinerlei Erinnerungen an ihre ersten zwei bis drei Lebensjahre. Auch danach ist vieles nur noch verschwommen. Fachleute sprechen dabei von infantiler Amnesie, also einem Erinnerungsverlust in der frühen Kindheit. Lange Zeit glaubten Forscher, dass das Gehirn in diesem Alter einfach noch nicht reif genug sei, um Erlebnisse dauerhaft abzuspeichern.
Doch diese Erklärung reicht offenbar nicht aus. Laut dem Standard können schon sechs Monate alte Babys erste Erfahrungen abspeichern. Sie erinnern sich zwar nicht bewusst, aber ihr Verhalten zeigt, dass Eindrücke im Gedächtnis geblieben sind. Das legt nahe, dass unser Gehirn früh beginnt, Informationen zu speichern, nur gelingt es uns später oft nicht, sie abzurufen.
Spracherwerb und Erzählkultur fördern das Erinnerungsvermögen
Wie gut man sich an seine frühe Kindheit erinnern kann, hängt auch vom sozialen Umfeld ab. In Kulturen mit starker Erzähltradition wie bei den Māori in Neuseeland erinnern sich Menschen laut dem Standard oft schon ab einem Alter von zweieinhalb Jahren. In westlichen Ländern liegt diese Grenze eher bei dreieinhalb Jahren, in China sogar bei vier Jahren.
Fachleute vermuten, dass das Erzählen von Erlebnissen dabei hilft, Erinnerungen im Gehirn zu festigen. Auch das Sprechenlernen scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn Kinder ihre Erfahrungen in Worte fassen, verankern sie diese womöglich besser.
Neue Studie testet Erinnerungen bei Babys mit Bildern
Ein Forschungsteam der Yale University entwickelte nun eine Methode, mit der sich Erinnerungen bei Babys erfassen lassen, ganz ohne Sprache. Die Wissenschaftler zeigten Babys Bilder von unbekannten Gesichtern und Gegenständen. Später bekamen die Kinder das bereits gezeigte Bild noch einmal, zusammen mit einem neuen. Wenn ein Baby das vertraute Bild länger anschaute, werteten die Forscher das als Zeichen dafür, dass es sich daran erinnerte.
Gleichzeitig untersuchten sie mit einer speziellen Hirn-Scan-Methode, wie aktiv bestimmte Bereiche im Gehirn dabei waren. Im Fokus stand der sogenannte Hippocampus, ein Teil des Gehirns, der für das Speichern von Erinnerungen zuständig ist. Dabei stellten sie fest, dass besonders bei Babys ab zwölf Monaten der Hippocampus deutlich aktiv war.
Gehirnregion für Erinnerungen arbeitet früh zuverlässig
Die stärkste Aktivität zeigte sich im hinteren Teil des Hippocampus. Das ist genau die Region, die bei Erwachsenen für sogenannte episodische Erinnerungen zuständig ist, also für persönliche Erlebnisse, an die man sich bewusst erinnern kann. Das spricht dafür, dass auch Babys solche Erinnerungen abspeichern können, selbst wenn sie später nicht mehr abrufbar sind.
„Wenn Babys etwas schon einmal gesehen haben, gehen wir davon aus, dass sie es sich genauer ansehen, wenn sie es wieder erkennen“, erklärte Studienleiter Nick Turk-Browne laut dem Standard. Er vermutet, dass das Problem eher beim Abrufen als beim Speichern liegt.
Erinnerungen sind vorhanden, aber schwer abrufbar
Die Idee lautet: Erinnerungen aus der frühen Kindheit bleiben im Gehirn vorhanden, doch es fehlt ein zuverlässiger Weg, sie wieder ins Bewusstsein zu holen. Das könnte erklären, warum wir Erlebnisse aus dieser Zeit später vergessen. Tierstudien zeigen, dass Erinnerungen manchmal durch gezielte Reize im Gehirn wieder aktiviert werden können. Sie waren also nie ganz verschwunden.
Allerdings gibt es auch Kritik an der neuen Studie. Pamela Banta Lavenex von der FernUni Schweiz lobt zwar die Methodik, warnt aber davor, daraus zu schließen, dass Babys wirklich echte Erinnerungen bilden. Auch Flavio Donato von der Universität Basel merkt an, dass in der Studie nur kurzfristiges Erinnern untersucht wurde. Was langfristig mit diesen Erinnerungen geschieht, sei weiter unklar.
Forscher fordern neue Untersuchungen nach dem ersten Lebensjahr
Laut Donato wäre es spannend zu untersuchen, was sich im Gehirn ab dem ersten Lebensjahr verändert. Offenbar entstehen dann neue Verbindungen, die es dem Gedächtnis ermöglichen, dauerhaft zu funktionieren. Die Studie wirft viele neue Fragen auf, aber lenkt den Blick auch auf ein Thema, das lange als Rätsel galt: Warum wir unsere Kindheit vergessen.
Kurz zusammengefasst:
- Babys können bereits ab etwa sechs Monaten erste Erfahrungen speichern, doch diese Erinnerungen lassen sich später meist nicht bewusst abrufen.
- Der Hippocampus, eine wichtige Gedächtnisregion im Gehirn, ist ab dem zwölften Lebensmonat aktiv und ermöglicht das Speichern episodischer Erlebnisse.
- Sprachentwicklung und familiäre Erzählkultur fördern das Erinnerungsvermögen, doch viele frühe Erinnerungen bleiben unzugänglich, weil der Zugriff darauf fehlt.
Übrigens: Schon bei Neugeborenen läuft im Gehirn die Gesichtserkennung auf Hochtouren, wie eine neue Studie jetzt gezeigt hat. Mehr dazu in unserem Artikel.
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