Neandertaler-Gen schwächt die Muskeln von Millionen Europäern
Eine vererbte Neandertaler-Genvariante senkt die Muskelenergie und betrifft fast jeden zehnten Menschen europäischer Herkunft.

Kraftvoll und muskulös – doch nicht jeder trägt das Potenzial dafür in sich. Eine „Genbremse aus der Steinzeit“ kann selbst bei intensivem Training die Muskelleistung begrenzen. © Unsplash
Es ist eine verblüffende Erkenntnis aus der Evolutionsforschung: Eine genetische Hinterlassenschaft der Neandertaler beeinflusst noch heute, wie leistungsfähig unsere Muskeln sind – und warum manche Menschen trotz intensivem Training früher erschöpfen als andere. Ein internationales Team, bei dem auch Forscher des Max-Planck-Instituts mitwirkten, hat in einer neuen Studie eine Genvariante identifiziert, die bei Millionen Europäern vorkommt und direkt mit körperlicher Leistungsfähigkeit verknüpft ist. Das betroffene Gen stammt ursprünglich vom Neandertaler – und es wirkt sich bis heute auf die Muskelleistung vieler Menschen aus.
Neandertaler-Gen: Schlüsselenzym für Muskelleistung betroffen
Im Zentrum der Analyse steht das Enzym AMPD1, das in Muskelzellen eine wichtige Rolle bei der Energieversorgung spielt. Ohne ausreichende AMPD1-Aktivität können Muskeln ihre Energie schlechter verwerten – mit messbaren Folgen für Ausdauer und Belastbarkeit.
Die Forscher fanden heraus, dass eine vererbte Genvariante – ursprünglich aus dem Erbgut der Neandertaler – die Aktivität von AMPD1 deutlich herabsetzt. Im Labor ließ sich die Leistung gentechnisch hergestellter Enzyme um 25 Prozent senken. In den Muskeln genetisch veränderter Mäuse fiel die Enzymaktivität sogar um bis zu 80 Prozent – mit deutlich eingeschränkter Muskelfunktion.
Neandertaler-Variante noch heute weit verbreitet
Die Genvariante ist bei allen bisher sequenzierten Neandertalern nachgewiesen worden. Sie fehlt bei Schimpansen und anderen Menschenaffen, wurde aber vor rund 50.000 Jahren durch Vermischung mit dem Homo sapiens in dessen Erbgut eingeschleust – eine sogenannte introgressierte Variante. Heute tragen etwa zwei bis acht Prozent der Europäer diese Erbanlage in sich.
Ungefähr ein bis zwei Prozent des Erbguts aller Menschen nicht-afrikanischer Herkunft stammt ohnehin von Neandertalern – dieser Befund ist gut dokumentiert. Die nun entdeckte Variante zeigt, wie solche urzeitlichen Spuren bis heute biologische Funktionen beeinflussen können.

Kein Hochleistungssport trotz Disziplin
Für die Studie analysierte das Forschungsteam um den Erstautor Dominik Macak die DNA von über tausend Spitzensportlerinnen und -sportlern aus verschiedenen Disziplinen. Dabei zeigte sich ein auffälliges Muster: „Wer ein defektes AMPD1-Enzym trägt, hat nur halb so hohe Chancen, Spitzensportlerin oder Spitzensportler zu werden“, sagt Macak.– unabhängig von Motivation, Trainingsintensität oder Disziplin.
Die betroffenen Personen gelten im Alltag meist als „norm-gesund“ – das bedeutet: Sie sind körperlich grundsätzlich leistungsfähig, ohne krank zu sein. Doch bei starker Belastung, etwa im Wettkampf, bei militärischem Drill oder körperlich fordernden Berufen, tritt der Energieengpass spürbar zutage. Dann erleben Betroffene ein unerklärliches Leistungstief – sie scheitern an Grenzen, die sich nicht durch Training oder Willenskraft überwinden lassen.
Häufigste genetische Ursache für Muskelschwäche in Europa
Genetische Varianten des AMPD1-Gens zählen in Europa zu den häufigsten Ursachen für sogenannte metabolische Myopathien – Erkrankungen, bei denen Muskeln Energie nicht ausreichend verwerten können. Etwa 9 bis 14 Prozent der europäischen Bevölkerung sind laut Studienlage davon betroffen, teils unbemerkt.
Diagnostiziert wird die Variante nur selten – meist erst, wenn Menschen auch bei optimalem Training keine Fortschritte machen oder unter wiederkehrender Muskelerschöpfung leiden. Die neue Studie bietet hier einen möglichen Erklärungsansatz.
Was Gentests leisten können – und was nicht
In spezialisierten medizinischen Zentren lässt sich die AMPD1-Variante gezielt nachweisen. Ein entsprechender Gentest kann für Betroffene Klarheit bringen – etwa bei unerklärlicher sportlicher Schwäche oder Verdacht auf genetisch bedingte Muskelstörungen.
Wichtig: Die Genvariante allein macht nicht krank. Viele Träger haben keine Einschränkungen, solange die körperliche Belastung im Alltag moderat bleibt. Erst unter Extrembedingungen wirkt sich der verminderte Enzymspiegel aus.
Evolutionär gut kompensiert – durch Technik und Kultur
Trotz ihrer biologischen Nachteile überlebten die Neandertaler über viele Jahrtausende. Die Forscher vermuten, dass technologische und kulturelle Entwicklungen – wie Werkzeuge, Waffen oder kooperative Strategien – den Nachteil reduzierter Muskelkraft ausgeglichen haben. Das könnte auch erklären, warum sich die Variante bis heute im menschlichen Genpool gehalten hat.
„Möglicherweise haben kulturelle und technologische Fortschritte sowohl bei modernen Menschen als auch bei Neandertalern die Notwendigkeit extremer Muskelkraft verringert“, erklärt Studienleiter Hugo Zeberg.
Warum diese Forschung heute wichtig ist
Die Studie zeigt, wie urzeitliche Genvarianten bis heute die körperliche Verfassung des Menschen prägen können – ohne dass Betroffene es wissen. Sie liefert damit wertvolle Einsichten in die genetische Vielfalt, die hinter sportlicher Leistung, Muskelkraft und individueller Belastbarkeit steckt.
Gleichzeitig mahnen die Autoren, genetische Diagnostik nicht zu überschätzen: Nicht jedes körperliche Tief hat eine genetische Ursache. Doch wo Trainingsprogramme nicht greifen, kann ein gezielter Gentest helfen, Fehlinterpretationen und Selbstzweifel zu vermeiden.
Kurz zusammengefasst:
- Eine vererbte Genvariante aus dem Erbgut der Neandertaler schwächt das Muskelenzym AMPD1 und senkt dadurch die körperliche Leistungsfähigkeit.
- Bis zu acht Prozent der Europäer tragen dieses Neandertaler-Gen in sich, das vor allem unter starker Belastung spürbare Einbußen der Muskelleistung verursacht.
- Die eingeschränkte AMPD1-Funktion halbiert laut Forschungsteam die Wahrscheinlichkeit, sportliche Höchstleistungen zu erreichen, bleibt im Alltag aber oft unbemerkt.
Übrigens: Auch Joggen kann Muskeln wachsen lassen, vor allem bei Laufanfängern oder mit der richtigen Intensität. Wie Intervalltraining, Hügel-Sprints und die Kombination mit Krafttraining gezielt die Muskelkraft fördern – mehr dazu unserem Artikel.
Bild: © Unsplash
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