Plötzlich fremd: Das Gegenteil des Déjà-vu stellt Wissenschaftler vor Rätsel

Harmloses Phänomen oder ernstes Warnzeichen? Was Forscher über „Jamais-vu“, das Gegenteil des „Déjà-vu“, wissen.

Noch sind sich Forscher nicht sicher, warum etwas Vertrautes manchmal fremd und seltsam wirkt. © Pexels

Noch sind sich Forscher nicht sicher, warum etwas Vertrautes manchmal fremd und seltsam wirkt. © Pexels

Was ein „Déjà-vu“ ist, wissen die meisten – der Moment, in dem sich eine aktuelle Situation überraschend vertraut anfühlt. Weitestgehend unbekannt ist das Gegenteil des Déjà-vu: das sogenannte „Jamais-vu“. Es beschreibt das Gefühl, etwas Vertrautes plötzlich als völlig neu und fremd wahrzunehmen.

„Jamais-vu“, aus dem Französischen übersetzt „nie gesehen“, tritt häufiger auf, als man vielleicht denkt. Hier ein paar Beispiele: Ein Wort, das man oft schreibt, wirkt plötzlich falsch. Oder das eigene Wohnzimmer, das jahrelang unverändert blieb, erscheint auf einmal merkwürdig fremd. Laut Medical News Today könnte fast jeder schon einmal ein solches Erlebnis gehabt haben.

Wie entsteht ein Jamais-vu?

Was im Gehirn passiert, wenn wir ein Jamais-vu erleben, ist noch nicht vollständig geklärt. Medical News Today hat jedoch mehrere Experten nach ihren Hypothesen gefragt, darunter auch Dr. Karen Sullivan, Neuropsychologin und Gründerin des „I CARE FOR YOUR BRAIN“-Programms. Sie vermutet, dass eine Trennung zwischen Gedächtnis und Wahrnehmung bekannter Reize die ungewohnte Empfindung hervorruft.

Es ist wahrscheinlich, dass Pfade im Gehirn, die normalerweise synchron sind, vorübergehend getrennt werden. Es wurde die Theorie aufgestellt, dass wir zwischen dem Neuen und dem Vertrauten durch eine Reihe von Schaltkreisen im Gehirn unterscheiden und dass eine Trennung von medialen temporalen Gedächtnisstrukturen die Empfindung von Jamais-vu hervorruft.

Eine weitere Theorie verbindet das Phänomen mit Stress oder Erschöpfung. Neurotransmitter wie Dopamin könnten ebenfalls eine Rolle spielen, so Dr. Dung Trinh, Gründer der HealthyBrainClinic. Weniger Aufmerksamkeit für alltägliche Dinge könnte das Gehirn dazu bringen, Vertrautes als unbekannt wahrzunehmen. Auch die temporalen Gehirnlappen, die für Gedächtnis und Wiedererkennung zuständig sind, könnten an diesem Prozess beteiligt sein.

Verbindung zu neurologischen und psychischen Störungen

Bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie tritt Jamais-vu gehäuft auf. Laut Dr. Jacqueline French von der NYU Grossman School of Medicine kann es während der Aura-Phase vor einem epileptischen Anfall auftreten. Hierbei entladen sich elektrische Signale im Gehirn, was die Vertrautheit bekannter Dinge stört. Auch bei Migräne und einigen Gedächtnisstörungen wurde das Phänomen beobachtet.

Psychologisch betrachtet, könnte Jamais-vu mit dissoziativen Erlebnissen vergleichbar sein, erklärt Dr. David Merrill, Psychiater und Experte für Gehirngesundheit. Er zieht Parallelen zu psychedelischen Erfahrungen, bei denen Wahrnehmung und Realität ebenfalls auseinanderdriften. In Extremsituationen kann dieses Gefühl sogar beängstigend wirken, wenn man plötzlich den vertrauten Bezug zu seiner Umwelt verliert.

Jamais-vu öffnet neues Fenster ins menschliche Gehirn

Dr. Chris Moulin, der an der Universität Grenoble zum Thema forscht und bereits eine Studie dazu veröffentlicht hat, vergleicht das Phänomen mit bestimmten Wahnvorstellungen. Diese treten bei psychischen Störungen wie dem Capgras-Syndrom auf, bei dem Betroffene glauben, nahestehende Personen seien durch Doppelgänger ersetzt worden. 

Das Gefühl, dass ein Wort falsch [geschrieben] ist, obwohl man weiß, dass es das nicht ist, ist Wahnvorstellungen wie dem Capgras-Syndrom nicht unähnlich, bei dem man sagt, dass jemand so aussieht, wie er sollte, aber nicht der ist, der er zu sein scheint. Oft beinhaltet die Wahnvorstellung, dass eine bekannte Person durch einen identisch aussehenden Betrüger ersetzt wurde.

Das Phänomen scheint also nicht nur ein seltenes Kuriosum zu sein. Laut Medical News Today könnte es helfen, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns besser zu verstehen und Ansätze für die Behandlung neurologischer und psychischer Erkrankungen zu liefern.

Weites Forschungsfeld mit viel Potenzial

Obwohl das Phänomen „Jamais-vu“ spannend ist, bleibt die Forschung dazu bislang überschaubar. Laut Dr. Sullivan bräuchte es viel größere Stichprobengrößen, um diese menschliche Erfahrung systematischer und aufschlussreicher zu charakterisieren.

Vor allem Bildgebungsverfahren wie MRT oder EEG könnten Einblicke in die zugrunde liegenden Gehirnmechanismen liefern, so Dr. Merrill. Ein besseres Verständnis könnte zeigen, wie unser Gehirn Vertrautheit und Neuheit verarbeitet – und welche Parallelen es dabei zum Déjà-vu gibt.

Bleibt nur noch eine letzte Frage: Muss man sich Sorgen machen, wenn man ein Jamais-vu hat? Die Experten meinen, dass das Phänomen meist harmlos ist. Wiederholt es sich jedoch häufig, könnte es auf neurologische oder psychische Probleme hinweisen. „In solchen Fällen sollte man einen Arzt aufsuchen, um mögliche Ursachen abzuklären“, rät Dr. Merrill.

Was du dir merken solltest:

  • Jamais-vu, das Gegenteil des Déjà-vu, beschreibt das Gefühl, Vertrautes plötzlich als neu und fremd wahrzunehmen, und ist häufiger als angenommen.
  • Wissenschaftler vermuten, dass eine Trennung von Gedächtnis und Wahrnehmung oder Faktoren wie Stress, Erschöpfung und Neurotransmitter wie Dopamin dieses Phänomen auslösen können.
  • Das Phänomen tritt gehäuft bei neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie oder Migräne auf und könnte helfen, das menschliche Gehirn und mögliche Therapieansätze besser zu verstehen.

Bild: © Pexels

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