Mythos Mikrobiom: Warum der Darm nichts mit Autismus zu tun hat

Eine neue Analyse entzaubert den Hype um den Darm: Weder Probiotika noch Mikrobiom-Veränderungen beeinflussen Autismus nachweislich.

Mythos Mikrobiom: Warum der Darm nichts mit Autismus zu tun hat

Forscher sehen keinen Zusammenhang zwischen Darm und Autismus: Die neue Analyse zeigt, dass Gene weit mehr erklären als das Mikrobiom. © Unsplash

Lange galt der Darm als möglicher Schlüssel zur neurologischen Entwicklungsstörung Autismus. In Internetforen, Blogs und Dokumentationen kursieren Versprechen: Probiotika, spezielle Diäten oder gar Stuhltransplantationen sollen helfen, Symptome zu lindern. Doch eine neue wissenschaftliche Auswertung zieht jetzt einen klaren Schlussstrich. Stattdessen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass genetische Faktoren die Hauptrolle spielen.

Ein Forscherteam um den Entwicklungsneurobiologen Kevin Mitchell vom Trinity College Dublin hat sämtliche relevanten Studien überprüft – und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: Es gibt keinen Beweis, dass Darmbakterien Autismus auslösen oder verstärken.

Die Analyse untersucht die drei Säulen der bisherigen Forschung: Beobachtungsstudien am Menschen, Tierversuche mit Mäusen und klinische Studien an Patienten. Alle drei liefern laut den Autoren kein belastbares Fundament für die verbreitete Theorie vom „Darm-Gehirn-Zusammenhang“ im Fall von Autismus.

Warum die Idee vom Mikrobiom bei Autismus so populär wurde

Die Vorstellung, dass der Darm eine Rolle bei Autismus spielt, hat sich über Jahre in den Köpfen festgesetzt. Viele Menschen mit Autismus leiden unter Magen-Darm-Beschwerden. Gleichzeitig hat die Zahl der Diagnosen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen – was manche als Hinweis auf neue Umweltfaktoren oder veränderte Lebensbedingungen deuteten.

Doch die Autoren sehen das anders. Die Zunahme liege vor allem an besserer Diagnostik, breiteren Kriterien und mehr öffentlicher Aufmerksamkeit. „Trotz allem, was man hört, liest oder auf Netflix sieht, gibt es keinen Beleg dafür, dass das Mikrobiom ursächlich zu Autismus beiträgt“, sagt Mitchell. „Es lohnt sich nicht, weitere Zeit und Mittel in dieses Thema zu investieren. Wir wissen, dass Autismus stark genetisch geprägt ist – und dort gibt es noch viel zu erforschen.“

Widersprüche und winzige Stichproben

Viele der bisherigen Studien, die einen Zusammenhang behaupteten, sind methodisch schwach. Manche verglichen nur 20 bis 40 Personen miteinander. „Autismus ist keine seltene Krankheit, also gibt es keinen Grund, Studien mit so wenigen Teilnehmern durchzuführen“, kritisiert Darren Dahly, Biostatistiker am University College Cork, der an der Studie mitwirkte.

Hinzu kommt: Selbst wenn Unterschiede im Mikrobiom gefunden wurden, widersprachen sie sich häufig. Einige Arbeiten meldeten eine geringere Vielfalt an Bakterien, andere eine größere. Als der Einfluss der Ernährung berücksichtigt wurde, verschwanden viele Unterschiede wieder.

Wenn Ernährung zur Ursache erklärt wird

Nach Einschätzung der Autoren liegt der Zusammenhang oft in der falschen Richtung. Menschen mit Autismus haben häufig eingeschränkte Essgewohnheiten oder reagieren empfindlich auf bestimmte Nahrungsmittel. Das kann die Zusammensetzung der Darmflora verändern – ohne dass der Darm etwas mit der Entstehung der Erkrankung zu tun hätte.

„Wenn überhaupt, dann gibt es stärkere Hinweise auf einen umgekehrten Zusammenhang“, sagt Mitchell. „Menschen mit Autismus essen anders – und das verändert ihr Mikrobiom.“

Forscher entlarven Tierversuche als ungeeignet

Ein großer Teil der früheren Studien stützte sich auf Mäuseversuche. Dort beobachteten Forscher, dass bestimmte Bakterien angeblich „autismusähnliches Verhalten“ auslösen. Doch die Autoren der neuen Analyse halten diese Ergebnisse für nicht übertragbar.

„Es gibt keine Belege, dass solche Verhaltensweisen bei Mäusen irgendetwas mit Autismus zu tun haben“, erklärt Mitchell. „Die Experimente selbst hatten methodische und statistische Fehler, die ihre Aussagen entwerten.“

Die Anatomie und das Immunsystem von Mäusen unterschieden sich stark vom Menschen, ebenso die Darmflora. Viele Ergebnisse aus dem Tiermodell hätten sich in späteren Untersuchungen nicht bestätigen lassen.

Klinische Studien: Keine Wirkung bei Stuhltransplantation oder Probiotika

Auch klinische Tests, die versuchten, durch gezielte Veränderungen der Darmflora eine Verbesserung der Symptome zu erreichen, zeigten keine Wirkung. Einige Studien nutzten Probiotika, andere Fäkaltransplantationen. Doch die Stichproben waren klein, viele Untersuchungen nicht kontrolliert oder gar verblindet.

„Wenn man die Studien korrekt durchführt, sieht man keine Effekte“, fasst Dahly zusammen. Auch die wenigen randomisierten Studien hätten keine signifikanten Unterschiede zwischen Behandlungs- und Kontrollgruppen gezeigt.

Warum das Thema Eltern so bewegt

Viele Familien suchen verzweifelt nach Ursachen – und nach Wegen, den Alltag ihrer Kinder zu erleichtern. Das erklärt, warum Angebote aus dem Wellness- oder Alternativmedizin-Bereich so gut ankommen. Probiotische Kuren, Stuhltransplantationen und Darm-Detox-Produkte versprechen Heilung oder Besserung, obwohl wissenschaftliche Belege fehlen.

Die Autoren warnen ausdrücklich davor, aus Hoffnung heraus ungetestete Therapien auszuprobieren. Sie sehen in der Kommerzialisierung eines unbewiesenen Zusammenhangs ein ethisches Problem.

Mehr Strenge statt neue Versprechen

„Wenn man unsere Botschaft ernst nimmt, gibt es zwei Möglichkeiten“, sagt Studienautorin Dorothy Bishop von der Universität Oxford. „Entweder man beendet diese Forschung, was uns freuen würde. Oder man macht endlich Studien, die methodisch sauber und groß genug sind.“

Die Forscher sehen in der Mikrobiom-Autismus-Hypothese ein warnendes Beispiel für wissenschaftlichen Überschwang. Kleine Studien, große Erwartungen und viel öffentliche Aufmerksamkeit hätten ein Thema befeuert, das am Ende auf wackligen Beinen steht.

Kurz zusammengefasst:

  • Autismus hat nach aktueller Forschung vor allem genetische Ursachen – ein ursächlicher Einfluss des Darmmikrobioms ist nicht belegt.
  • Frühere Studien zu Probiotika, Stuhltransplantationen und Tiermodellen waren methodisch schwach und widersprüchlich.
  • Die Autoren fordern größere, sauber geplante Studien – und warnen vor teuren Therapien ohne wissenschaftlichen Nutzen.

Übrigens: Immer mehr Erwachsene erkennen erst spät ihren Platz im Autismus-Spektrum – besonders Frauen. Warum Diagnosen oft Jahre dauern, mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Unsplash

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