Überraschende Insulinquelle: Das Hormon entsteht auch im Gehirn und steuert Appetit und Gedächtnis
Das Gehirn bildet eigenes Insulin – und beeinflusst damit Appetit, Wachstum und Gedächtnis. Neue Studien zeigen überraschende Zusammenhänge.

Beim Essen arbeitet nicht nur der Magen: Auch das Gehirn bildet Insulin – und steuert damit Appetit, Denken und Körperprozesse auf überraschende Weise. © Pexels
Insulin wird nicht nur in der Bauchspeicheldrüse gebildet – auch das Gehirn stellt dieses Hormon her. Für viele mag das überraschend klingen, denn in Schulbüchern steht davon nichts. Der Forscher Craig Beall von der University of Exeter beschreibt in seiner Veröffentlichung, wie lange diese Fähigkeit unseres Körpers übersehen wurde. Doch genau dieses Wissen ermöglicht neue Ansätze im Umgang mit Diabetes, kognitivem Abbau und sogar bei der Appetitkontrolle – besonders für Menschen, bei denen klassische Therapien nicht ausreichen.
Warum das Gehirn eigenes Insulin bildet
Lange glaubte man, Insulin im Gehirn stamme ausschließlich aus dem Blut. Ein Irrtum, wie heute klar ist. Schon 1978 fanden Wissenschaftler bei Ratten Insulinwerte im Gehirn, die bis zu 100-mal höher lagen als im Blut. Doch diese Erkenntnis verschwand aus dem Fokus der Forschung. Zwar gelangt Insulin aus der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) über die Blutbahn in den Kopf, doch verschiedene Nervenzellen produzieren es auch lokal – gezielt in den Regionen, wo es gebraucht wird.
Diese Funktion unterscheidet sich deutlich von der Wirkung im Körper. Im Gehirn übernimmt Insulin offenbar spezifische Aufgaben, etwa bei der Steuerung von Gedächtnisprozessen oder beim Essverhalten.
Insulin steuert Denken, Appetit und Wachstum
Mindestens sechs Zelltypen im Gehirn produzieren Insulin. Einige davon sitzen im Hippocampus, dem Zentrum für Lernen und Erinnern. Besonders auffällig: Die sogenannte Neurogliaform-Zelle reagiert auf Glukose und erhöht ihre Insulinproduktion bei steigendem Zuckerwert. Ähnlich arbeiten die Betazellen im Pankreas.
Auch neuronale Stammzellen, die ein Leben lang neue Nervenzellen bilden, sind insulinaktiv. Sogar im Riechkolben, wo Gerüche verarbeitet werden, finden sich insulinbildende Zellen. Ihre genaue Rolle ist noch nicht geklärt.
Stress verändert Insulinproduktion im Hypothalamus
Im Hypothalamus, jener Hirnregion, die viele Körperfunktionen steuert, entdeckten Forscher insulinbildende Stresssensoren. Eine Studie zeigte: Unter Belastung sank dort die Insulinproduktion bei Mäusen deutlich. Die Folge war ein verlangsamtes Wachstum. Denn Insulin in dieser Region scheint die Ausschüttung von Wachstumshormonen in der Hirnanhangdrüse mitzubestimmen.
Gerade bei Kindern mit chronischem Stress könnten diese Erkenntnisse künftig eine wichtige Rolle spielen, auch im Hinblick auf Wachstum und Entwicklung.
Hirnflüssigkeit verteilt Insulin und beeinflusst Essverhalten
Im Plexus choroideus, dem Bereich, der täglich rund 500 Milliliter Hirnflüssigkeit produziert, fanden Wissenschaftler ebenfalls insulinproduzierende Zellen. Diese Flüssigkeit versorgt das Gehirn mit Nährstoffen und transportiert möglicherweise Insulin zu verschiedenen Regionen, etwa zum Appetitzentrum im Hypothalamus.
Eine Studie aus dem Jahr 2023 zeigte: Wird die Insulinproduktion in diesem Bereich verändert, nimmt auch der Appetit ab. Weitere Nervenzellen im Hirnstamm wirken zusätzlich appetitzügelnd. Diese Entdeckungen könnten neue Perspektiven im Umgang mit Adipositas oder Essstörungen eröffnen.
Alzheimer, Nasenspray und offene Fragen
Insulin im Gehirn kontrolliert zwar nicht den Blutzucker, spielt aber für die Hirngesundheit eine große Rolle. Besonders bei Alzheimer reagieren Nervenzellen weniger empfindlich auf Insulin, ähnlich wie bei Typ-2-Diabetes. Manche Fachleute sprechen deshalb von „Typ-3-Diabetes“. Glukose, der Hauptbrennstoff des Gehirns, wird dann nicht mehr richtig genutzt. Bei Alzheimer konnte ein Energiedefizit von bis zu 20 Prozent festgestellt werden.
Deshalb testen Forscher Insulinsprays, die über die Nase direkt ins Gehirn gelangen. Erste Studien berichten über verbesserte Denkfähigkeit, jedoch nicht bei allen Patienten. Bei manchen Frauen zeigten sich sogar negative Effekte. Offen bleibt, wie genau das Hirninsulin wirkt und ob es evolutionär vielleicht sogar älter ist als jenes aus der Bauchspeicheldrüse.
Kurz zusammengefasst:
- Das Gehirn produziert eigenes Insulin – unabhängig vom Pankreas – und nutzt es für Funktionen wie Lernen, Gedächtnis und Appetitregulation.
- Verschiedene Hirnzellen, etwa im Hippocampus und Hypothalamus, reagieren dabei sensibel auf Glukose und beeinflussen Wachstum, Stoffwechsel und Nahrungsaufnahme.
- Bei Alzheimer ist das Gehirn oft insulinresistent; erste Studien mit Insulin-Nasensprays zeigen mögliche Effekte auf die geistige Leistungsfähigkeit.
Übrigens: Nicht nur bei Hormonen wie Insulin zählt im Gehirn das richtige Timing, auch Erinnerungen bleiben nur haften, wenn Ton und Bild synchron sind. Wie eng Wahrnehmung und Hirnaktivität dabei zusammenspielen, zeigt eine neue Studie – mehr dazu in unserem Artikel.
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