Schweiz am Scheideweg: Biodiversität zwischen Schutz und Bedrohung
Die Schweiz stimmt über die Biodiversitätsinitiative ab. Es geht um bedrohte Arten und mögliche Einschränkungen für die Landwirtschaft.
In der Schweiz steht die Biodiversität vor einem entscheidenden Wendepunkt. Am 22. September stimmen die Bürgerinnen und Bürger über die sogenannte Biodiversitätsinitiative ab, die den Schutz der Natur und Landschaft in der Verfassung verankern soll. Der Vorschlag, der von Umwelt- und Naturschutzorganisationen unterstützt wird, fordert mehr Geld und Flächen für den Naturschutz. Laut Tagesschau ist etwa ein Drittel der Arten in der Schweiz gefährdet. Die Initiatoren der Abstimmung warnen vor einem weiteren Verlust von Lebensräumen und fordern daher ein rasches Eingreifen.
Naturschützer im Kampf für die Artenvielfalt
Urs Leugger-Eggimann, Geschäftsführer der Organisation ProNatura, weist auf die alarmierende Situation hin:
Der Biodiversität in der Schweiz geht es sehr schlecht.
Urs Leugger-Eggimann
Rund 50 Prozent der Lebensräume seien bedroht, was dringende Maßnahmen erforderlich mache. Befürworter der Initiative sind der Ansicht, dass der Schutz der Biodiversität nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch notwendig ist, da er langfristig stabile Erträge in der Landwirtschaft und den Erhalt von gesunden Böden sichert.
Kritik von den Landwirten: Sorge um die Lebensmittelproduktion
Trotz der klaren Dringlichkeit gibt es erheblichen Widerstand gegen die Biodiversitätsinitiative. Der Schweizerische Bauernverband warnt vor übermäßigen Eingriffen in die Landwirtschaft. Markus Ritter, Präsident des Bauernverbandes, bemängelt: „Es ist nicht akzeptabel, dass Landwirtschaftsfläche für besseren Artenschutz umgewandelt werden soll“. Die Sorge, dass die Initiative die heimische Lebensmittelproduktion einschränken könnte, dominiert die Debatte. Auf Abstimmungsplakaten ist gar von einem drohenden Verlust der „Schweizer Lebensmittelproduktion“ die Rede.
Langsames Artensterben: Die unterschätzte Gefahr
Doch das Problem der Biodiversität geht tiefer, als es die Volksabstimmung allein behandeln kann. Wie die NZZ berichtet, verarmt die genetische Vielfalt vieler Tierarten in der Schweiz zunehmend, was zu einem schleichenden Aussterben führt. Ein drastisches Beispiel liefert der Raubwürger, eine Vogelart, die seit 1986 in der Schweiz ausgestorben ist. Viele Arten verschwinden nach und nach, ohne dass es sofort bemerkt wird. Niklaus Zimmermann, Biologe der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, erklärt: „Die Menschen bemerken die Konsequenzen oft erst, wenn es bereits zu spät ist.“
Die „lebenden Toten“: Arten ohne Zukunft
Besonders bedroht sind Arten wie der Roi du Doubs, ein seltener Fisch, der nur in einem Flussabschnitt des Schweizer Jura vorkommt. Trotz intensiver Bemühungen wurde 2023 nur noch ein einziges Exemplar des Fisches gefunden. Das geringe Vorkommen führt zu genetischer Verarmung, was wiederum die Fortpflanzungsfähigkeit der Art gefährdet. „Es handelt sich um lebende Tote“, sagt Florian Altermatt, Professor für Ökologie an der Universität Zürich. Selbst Wiederansiedlungen wie jene von Steinböcken, Luchsen und Bartgeiern zeigen das gleiche Muster: Wenige Gründertiere führen zu Inzucht und einem langfristigen genetischen Flaschenhals.
Ökologische Sicherheit durch Artenvielfalt
Die genetische Verarmung und das schleichende Aussterben von Arten haben weitreichende Konsequenzen für ganze Ökosysteme. Altermatt betont:
Eine hohe Biodiversität ist eine Absicherung, dass Ökosysteme nicht kollabieren.
Florian Altermatt
Ohne ausreichende Vielfalt an Tieren und Pflanzen verlieren Wälder und andere Lebensräume ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber den Folgen des Klimawandels. Artenreiche Gebirgswälder sind beispielsweise weniger anfällig für Dürre oder extreme Hitze als artenarme Monokulturen. Der Verlust von Arten gefährdet somit auch die Anpassungsfähigkeit der Natur an veränderte Umweltbedingungen.
Mehr zum Thema Schweiz:
- Biodiversität nimmt ab: Blüht in der Schweiz bald nur noch Löwenzahn?
- Schweiz experimentiert mit neuartigem Atomreaktor – trotz Kernkraftverbot
- Schweiz: Alte Satellitenantennen erzeugen nun Solarenergie
Schweiz in der Verantwortung: Zwischen Naturschutz und wirtschaftlichen Interessen
Während die Schweizer Regierung, allen voran Umweltminister Albert Rösti, die hohen Kosten für die Umsetzung der Biodiversitätsinitiative anführt, argumentieren die Befürworter, dass Nichthandeln langfristig noch höhere Kosten verursachen könnte. Schätzungen zufolge könnten die wirtschaftlichen Schäden durch den Verlust der Biodiversität ab dem Jahr 2050 bis zu 16 Milliarden Franken betragen. Der Ausgang der Abstimmung ist jedoch ungewiss. Laut Umfragen tendieren viele Schweizer dazu, die Initiative abzulehnen.
Der Schutz der Biodiversität ist eine globale Herausforderung, doch gerade in der Schweiz, die für ihre einzigartige Natur bekannt ist, stellt sich die Frage, wie stark der Wille zum Handeln ist. Klar ist: Ohne wirksame Maßnahmen droht ein unaufhaltsamer Verlust von Arten, der sowohl die Natur als auch die menschliche Lebensgrundlage bedroht.
Was du dir merken solltest:
- Die Schweiz stimmt über die Biodiversitätsinitiative ab, die mehr Geld und Flächen für den Schutz bedrohter Arten fordert.
- Der Bauernverband warnt vor Einschränkungen der Landwirtschaft, während Umweltschützer auf die langfristigen Vorteile für Natur und Böden hinweisen.
- Genetische Verarmung bedroht viele Tierarten in der Schweiz; ohne Maßnahmen drohen irreparable Verluste für die Artenvielfalt und die Landwirtschaft.
Übrigens: Kernkraftwerke könnten in der Schweiz vor einem Comeback stehen, vor allem durch neue Technologien wie kleine modulare Reaktoren. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © 33biker33 via Wikimedia unter CC BY-SA 4.0