Wenn das Bauchgefühl entscheidet: Wie der Darm das Verhalten von Kindern mit Autismus steuert
Der Bauch sendet Signale, lange bevor der Kopf denkt. Diese neue Erkenntnis verändert die Sicht auf Autismus.

Der Darm rückt als möglicher Schlüssel in der Autismus-Therapie in den Fokus. © Vecteezy
Was hat der Darm mit dem Gehirn zu tun? Und wie kann das Bauchgefühl bei Kindern mit Autismus plötzlich wissenschaftlich erklärbar sein? Eine neue Studie der University of Southern California (USC) gibt faszinierende Antworten – und öffnet die Tür zu neuen Ansätzen in der Autismus-Therapie.
Das Forschungsteam um Lisa Aziz-Zadeh vom Brain and Creativity Institute fand heraus: Die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn beeinflusst bei Kindern mit Autismus das Verhalten. Der zentrale Gedanke der Studie lautet: Was im Verdauungssystem passiert, hat direkte Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem.
Wir konnten zeigen, dass Stoffwechselprodukte aus dem Darm das Gehirn beeinflussen – und das Gehirn wiederum das Verhalten.
Lisa Aziz-Zadeh
Diese Verbindung ist unter dem Begriff Darm-Hirn-Achse bekannt. Neu ist: Bei Autismus scheint sie eine zentrale Rolle zu spielen.
Mehr Nervenzellen im Darm als im Rückenmark
Der Darm ist mehr als ein Verdauungsorgan. Tatsächlich besitzt er ein eigenes Nervensystem, das sogenannte enterische Nervensystem – mit über 100 Millionen Nervenzellen. Damit sind im Darm sogar mehr Neuronen aktiv als im Rückenmark. Rund 90 Prozent der Signale zwischen Darm und Gehirn fließen in eine Richtung: vom Bauch nach oben.
Dieses Zusammenspiel erklärt, warum Menschen oft von einem „Bauchgefühl“ sprechen – oder warum Stress auf den Magen schlägt. Es geht dabei um Interozeption, also die bewusste und unbewusste Wahrnehmung innerer Körperzustände. Gefühle wie Angst, Ekel oder auch Vorfreude entstehen mitunter zuerst im Bauch.
Der Stoffwechselweg von Tryptophan zu Serotonin
Für die Studie analysierte das Team der University of Southern California die Stuhlproben von 84 Kindern. 43 von ihnen lebten mit Autismus, die anderen waren neurologisch unauffällig. Besonders genau untersuchten sie die Abbauprodukte von Tryptophan, einer Aminosäure, die zum Beispiel in Eiern, Käse oder Fleisch vorkommt.
Aus Tryptophan entsteht im Körper Serotonin – ein Botenstoff, der für Stimmung, soziales Verhalten, Schlaf und Lernfähigkeit entscheidend ist. Und: Rund 95 Prozent des Serotonins werden nicht im Gehirn, sondern im Darm gebildet. Genau hier sahen die Forscher bei Kindern mit Autismus Unterschiede. Bestimmte Metaboliten, also kleine Moleküle, die beim Verdauen entstehen, waren bei ihnen in anderer Zusammensetzung vorhanden – und das zeigte sich auch im Verhalten und in der Hirnaktivität.
Verhalten, Verdauung und neuronale Aktivität im Zusammenhang
„Wir wissen, dass viele Kinder mit Autismus unter Magen-Darm-Problemen leiden – von Verstopfung bis Bauchschmerzen“, sagte Aziz-Zadeh. Gleichzeitig zeigten sich in der Studie Unterschiede in bestimmten Hirnregionen. Manche waren überdurchschnittlich aktiv, andere weniger. In der Kombination mit den auffälligen Stoffwechselprodukten aus dem Darm entsteht ein Gesamtbild: Darm, Gehirn und Verhalten greifen direkt ineinander.
Für Doktorandin Sofronia Ringold, Mitautorin der Studie, steckt in dieser Entdeckung viel Hoffnung. „Es wäre spannend, wenn wir über den Darm Wege finden könnten, die neuralen Abläufe zu beeinflussen – und damit auch Symptome, die für viele Betroffene sehr belastend sind.“ Therapien, die das Mikrobiom im Darm gezielt verändern, könnten also in Zukunft dabei helfen, Verhaltenssymptome bei Autismus zu mildern.
Auch wenn viele Fragen offenbleiben, ist eines klar: Der Darm denkt mit. Und gerade bei Kindern mit Autismus könnte genau dieser Aspekt neue Wege in der Behandlung ermöglichen – jenseits klassischer Therapien.
Kurz zusammengefasst:
- Bei Kindern mit Autismus beeinflussen Stoffwechselprodukte aus dem Darm die Aktivität bestimmter Hirnregionen und damit auch ihr Verhalten.
- Der Botenstoff Serotonin, der stark an der Gefühlsverarbeitung beteiligt ist, wird überwiegend im Darm gebildet und steht mit der Darmflora in Verbindung.
- Die Studie der University of Southern California zeigt: Veränderungen im Mikrobiom könnten künftig ein neuer Ansatz in der Behandlung von Autismus sein.
Übrigens: Viele Erwachsene erhalten ihre Autismus-Diagnose erst spät – das gilt besonders für Frauen. Lange Wartezeiten erschweren die Abklärung zusätzlich. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Vecteezy