Autismus-Risiko durch Genmutation: Was eine Muskelerkrankung verrät

Bei einer seltenen Muskelerkrankung tritt Autismus deutlich öfter auf – Forscher entdecken eine genetische Verbindung im Gehirn.

Seltene Genmutation liefert neue Hinweise auf Autismus.

Eine neue Studie zeigt, dass eine Genmutation, die zu einer seltenen Muskelerkrankung führt, auch das Risiko für Autismus erhöhen kann. Sie betrifft nicht nur die Muskeln, sondern auch das Gehirn. © Pexels

Warum entwickeln manche Kinder Autismus – und was läuft dabei im Körper anders? Neue Forschungsergebnisse liefern Hinweise auf bisher unbekannte Zusammenhänge. Eine Studie aus Kanada und den USA zeigt: Eine bestimmte Genmutation, die eigentlich bei einer seltenen Muskelerkrankung auftritt, könnte auch eine Rolle bei Autismus spielen. Die Ergebnisse stammen vom Hospital for Sick Children (SickKids) in Toronto und der University of Las Vegas Nevada (UNLV).

Im Mittelpunkt steht eine Veränderung im sogenannten DMPK-Gen. Dort wiederholt sich eine bestimmte Abfolge von drei Bausteinen (CTG) ungewöhnlich oft – Tandem-Wiederholungserweiterungen (TREs) genannt. Diese Genveränderung kommt bei etwa einem von 2.100 Neugeborenen vor und führt zur Myotonen Dystrophie Typ 1 (DM1), einer vererbbaren Muskelerkrankung mit langsamer Verschlechterung der Muskelkraft. Jetzt zeigt sich: Die gleiche Mutation beeinflusst auch Prozesse im Gehirn – und kann womöglich Autismus begünstigen.

Autismus durch gestörte Genfunktion im Gehirn

Die Wissenschaftler haben sich die Gehirne von Menschen mit DM1 angeschaut, vor allem den präfrontalen Kortex. Dies ist eine Region, die unter anderem für soziales Verhalten zuständig ist. Dort entdeckten sie große Veränderungen bei der Verarbeitung von genetischen Informationen. Normalerweise wird in den Zellen entschieden, welche Teile der Gene in Eiweiße übersetzt werden. Doch bei Betroffenen lief dieser Vorgang bei rund 1.800 von fast 184.000 untersuchten Fällen anders als erwartet – besonders oft in Genen, die mit Autismus zu tun haben.

„TREs sind wie ein Schwamm, der all diese wichtigen Proteine aus dem Genom aufsaugt“, sagt Dr. Ryan Yuen vom SickKids-Institut. „Ohne dieses Protein funktionieren andere Bereiche des Genoms nicht richtig.“ Besonders betroffen sind sogenannte Mikro-Exons – winzige Abschnitte in Genen, die bei der Entwicklung des Nervensystems eine wichtige Rolle spielen.

Bei DM1-Betroffenen tritt Autismus deutlich häufiger auf

Autismus betrifft etwa eines von 100 Kindern. Bei Menschen mit der Muskelerkrankung DM1 ist die Wahrscheinlichkeit jedoch deutlich höher: Etwa 14 von 100 Betroffenen zeigen autistische Merkmale. Das weckte bei den Forscher den Verdacht, dass die Genveränderung nicht nur die Muskeln betrifft, sondern auch das Gehirn. „Eine Variante fiel mir besonders auf, die wir bei einer seltenen neuromuskulären Erkrankung sehen“, erklärt Dr. Łukasz Sznajder von der UNLV. „So begannen wir, die Verbindung herzustellen. Wir fanden eine molekulare Verbindung oder Überlappung, von der wir glauben, dass sie der Kern der autistischen Symptome bei Kindern mit Myotoner Dystrophie ist.“

Laut den Wissenschaftlern betreffen rund 25 Prozent der beobachteten Störungen in der Genverarbeitung Gene, die schon lange mit Autismus in Verbindung stehen – zum Beispiel SCN2A und ANK2. Diese Gene sind wichtig für den Aufbau von Nervenzellen und deren Kommunikation im Gehirn. Die Genveränderung im DMPK-Gen blockiert bestimmte Eiweiße (MBNL-Proteine), die für die Verarbeitung anderer Gene gebraucht werden. Dadurch gerät die Entwicklung im Gehirn aus dem Takt – mit Folgen für Wahrnehmung, Verhalten und soziale Fähigkeiten.

Mäuse zeigen auffälliges Verhalten wie bei Autismus

Um die Auswirkungen der Genveränderung besser zu verstehen, entwickelten die Fachleute spezielle Mausmodelle. Diese Tiere hatten entweder dieselbe Mutation im DMPK-Gen oder eine Veränderung im MBNL-Gen, das dadurch gestört wird. Beide Gruppen zeigten auffälliges Verhalten: weniger Kontakt zu Artgenossen, starke Reaktionen auf neue Reize und sich wiederholende Bewegungen – alles typisch für Autismus. Gleichzeitig fanden sich in ihren Gehirnzellen dieselben genetischen Störungen wie bei betroffenen Menschen.

Die Forscher schließen daraus: Schon die Genveränderung allein reicht aus, um das Verhalten und die Entwicklung des Gehirns zu beeinflussen – ohne dass andere Auslöser notwendig sind.

Neue Perspektiven für genetische Diagnose und Behandlung

Bereits 2020 wurden in einer Studie mehr als 2.500 Stellen im Erbgut identifiziert, an denen solche Wiederholungen wie im DMPK-Gen bei Menschen mit Autismus besonders häufig auftreten. Die aktuelle Studie zeigt nun, wie genau solche Veränderungen die Funktion des Gehirns stören – weil wichtige Eiweiße nicht mehr verfügbar sind und Gene dadurch falsch verarbeitet werden.

„Unsere Ergebnisse stellen eine neue Möglichkeit dar, die genetische Entwicklung von Autismus zu charakterisieren“, sagt Dr. Yuen. Besonders bei Kindern mit früher Diagnose einer genetischen Erkrankung wie DM1 könnten diese Erkenntnisse helfen, das Risiko für Autismus besser einzuschätzen – und gezielt zu handeln.

Kurz zusammengefasst:

  • Eine Genmutation, die eine seltene Muskelerkrankung auslöst, greift auch in die Hirnentwicklung ein – und erhöht das Autismus-Risiko deutlich.
  • Forscher fanden gestörte Genverarbeitung in Gehirnregionen, die für soziales Verhalten zuständig sind – betroffen sind zentrale Autismus-Gene.
  • Mäuse mit der Mutation zeigten autistisches Verhalten – die Erkenntnisse könnten helfen, genetisch bedingten Autismus früher zu erkennen.

Übrigens: Immer mehr Erwachsene erkennen erst spät, warum sie sich seit Jahren unverstanden fühlen. Was hinter dem Anstieg an Autismus-Diagnosen steckt und warum gerade Frauen oft übersehen werden – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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