Hochfunktionale Depression: Der unsichtbare Kampf vieler Betroffener
Hochfunktionale Depression zeigt sich oft unsichtbar im Alltag. Betroffene wirken leistungsfähig, während innerlich Erschöpfung und Überforderung wachsen.
Hochfunktionale Depression ist eine Form der Depression, die laut Psychiaterin Michelle Hildebrandt oft unerkannt bleibt. Im Gegensatz zur klassischen Depression, bei der Symptome wie Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit dominieren, treten bei hochfunktionalen Betroffenen diese Zeichen nicht direkt auf. „Die typischen Merkmale fehlen oft“, erklärt Hildebrandt gegenüber dem Spiegel, „weshalb Betroffene meist erst spät erkennen, dass sie erkrankt sind.“ Stattdessen führen diese Menschen ihren Alltag scheinbar normal weiter, gehen zur Arbeit, sind in der Familie präsent und erfüllen ihre Verpflichtungen – nach außen hin scheint alles in Ordnung.
Die unterschätzte Gefahr hinter der Maske der Normalität
Hinter der Fassade verbirgt sich jedoch ein tiefes Leiden, das oft übersehen wird. Menschen mit hochfunktionaler Depression verbergen ihre Erschöpfung und psychische Belastung und setzen alles daran, ihren Alltag wie gewohnt zu bewältigen. „Sie werden hektisch und gereizt, weil sie sich überfordert fühlen“, beschreibt Hildebrandt die inneren Kämpfe, die sie erleben. Oft kommt es dann plötzlich und scheinbar grundlos zu einem totalen Zusammenbruch – für das Umfeld unerwartet und schwer zu verstehen. „Manche Betroffene können von einem Tag auf den anderen kaum mehr aufstehen oder zur Arbeit gehen“, berichtet Hildebrandt.
Belastungen, die das „Fass zum Überlaufen“ bringen
Der Zusammenbruch wird oft durch banale Vorfälle ausgelöst: ein kleiner Streit mit dem Partner, ein unerwarteter Stau im Straßenverkehr oder das Geschrei des eigenen Kindes. Solche eigentlich harmlosen Situationen bringen das „Fass zum Überlaufen“. Hildebrandt erklärt, dass viele Betroffene unter einer anhaltenden Überforderung stehen und sich über lange Zeit unterschwellig erschöpft fühlen.
Manche verdrängen die Warnsignale und lächeln die Belastung einfach weg.
Michelle Hildebrandt
Auch körperliche Symptome wie Rückenschmerzen oder Magenbeschwerden sowie Schlafprobleme können erste Anzeichen einer beginnenden Depression sein.
Die Persönlichkeitsstruktur als Ursache für die hochfunktionale Depression
Ein bedeutender Faktor für die Entwicklung einer hochfunktionalen Depression ist laut Hildebrandt die Persönlichkeitsstruktur. Betroffene zeichnen sich oft durch eine leistungsorientierte, selbstdisziplinierte und zielstrebige Haltung aus. „Sie reagieren extrem empfindlich auf Misserfolge und kämpfen oft mit einem Helfersyndrom oder Hochstapler-Syndrom“, erläutert Hildebrandt. Dieser Drang, es allen recht machen zu wollen, rührt oft aus der Kindheit, wenn ein stark leistungsorientiertes Umfeld vorherrschte. Diese Menschen setzen sich unter enormen Druck und fürchten, als „Hochstapler“ entlarvt zu werden, falls sie einen Fehler machen.
Hohe Belastung und das Bedürfnis nach Anerkennung
Vor allem Menschen in Berufen, die hohe Ansprüche an ihre Leistungsfähigkeit stellen, sind betroffen. Das Gesundheitswesen und das mittlere Management sind laut Hildebrandt Berufsgruppen, in denen die hochfunktionale Depression häufiger vorkommt. Hier stehen Betroffene oft zwischen mehreren Ansprüchen – die sogenannten „Sandwich-Positionen“ – und fühlen sich, von allen Seiten mit Anforderungen konfrontiert, zum „Ja-Sagen“ gezwungen. „Wer immerzu Aufgaben übernimmt, weil er etwas bewirken möchte und nicht als Versager gelten will, gerät schnell in eine Überforderungssituation“, erläutert Hildebrandt.
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Therapieansätze und die Bedeutung persönlicher Ziele
Menschen mit einer hochfunktionalen Persönlichkeitsstruktur bringen laut Hildebrandt oft bereits Ressourcen mit, die ihnen in der Therapie helfen können. Ihr Durchhaltevermögen und ihre Fähigkeit zur Problemlösung erleichtern es, sich auf eine Behandlung einzulassen und die Depression aktiv zu überwinden. „Diese Menschen haben oft ein konkretes Ziel, das sie motiviert und ihnen dabei hilft, die Therapie ernst zu nehmen“, erklärt Hildebrandt. Ein starkes Zielbewusstsein kann laut der Expertin in der Behandlung von Depressionen hilfreich sein, da es den Betroffenen den Antrieb gibt, die Erkrankung zu bekämpfen und neue Wege zu finden.
Prävention durch Achtsamkeit, Bewegung und offene Kommunikation
Um eine hochfunktionale Depression gar nicht erst entstehen zu lassen, empfiehlt Hildebrandt regelmäßige Entspannung und Selbstfürsorge. Besonders sportliche Betätigung hilft nachweislich dabei, Stress abzubauen und die psychische Gesundheit zu fördern. „Sport ist ein bewährtes Mittel, um den Kopf frei zu bekommen und Anspannung zu lösen“, betont sie. Ebenso können Techniken wie Meditation oder gezielte Entspannungsübungen hilfreich sein, um langfristig gesund zu bleiben. „Ein offenes Gespräch mit Kollegen oder der Familie kann oft dabei helfen, Druck abzubauen und gemeinsam Lösungen zu finden.“ Hildebrandt rät dazu, die ersten Warnzeichen wie Schlafprobleme oder Gereiztheit ernst zu nehmen und sich bei Bedarf Unterstützung zu suchen, bevor die Erschöpfung überhandnimmt.
Übrigens: Mehr zum Thema erfahrt ihr in Michelle Hildebrandts kürzlich erschienenem Buch „Hochfunktionale Depression. Das übersehene Leiden“.
Was du dir merken solltest:
- Hochfunktionale Depression bleibt oft unentdeckt, da Betroffene nach außen leistungsfähig wirken, obwohl sie innerlich erschöpft sind.
- Leistungsorientierte Persönlichkeitsstrukturen und starker Stress sind Risikofaktoren, die eine hochfunktionale Depression fördern.
- Frühe Warnsignale wie Schlafprobleme, Reizbarkeit und körperliche Beschwerden ernst zu nehmen, hilft, rechtzeitig gegenzusteuern.
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