Neue Erkenntnisse: Kleinkinder unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse, Moral entsteht erst später

Forscher weltweit sind sich einig: Kleinkinder können Gut und Böse nicht unterscheiden. Diese neuen Erkenntnisse überraschen Psychologen.

Zwei Kleinkinder teilen friedlich ihr Spielzeug – ein Verhalten, das laut Studie erst durch soziale Interaktion und Feinfühligkeit von Bezugspersonen erlernt wird. © Pexels

Zwei Kleinkinder teilen friedlich ihr Spielzeug – ein Verhalten, das laut Studie erst durch soziale Interaktion und Feinfühligkeit von Bezugspersonen erlernt wird. © Pexels

Ein internationales Forschungsteam hat die weit verbreitete Annahme widerlegt, dass Kleinkinder ein angeborenes Verständnis von Moral besitzen. Unter der Leitung von über 40 entwicklungspsychologischen Teams, darunter die Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), untersuchte die bislang größte Replikationsstudie dieser Art über 1.000 Kinder im Alter zwischen 5,5 und 10,5 Monaten. Die Ergebnisse, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Developmental Science, liefern eine klare Botschaft: Moral ist nicht angeboren. „Kinder unter zehn Monaten können noch nicht zwischen einer guten und einer schlechten Handlung unterscheiden“, erklärt Markus Paulus, Entwicklungspsychologe an der LMU.

Moral durch die Augen von Babys

Im Zentrum der Studie standen Szenen mit interagierenden Figuren, die den Kindern vorgespielt wurden. Eine Figur half einer anderen, einen Berg hinaufzukommen, während eine zweite Figur die andere hinderte und sie sogar schubste. Die Kleinkinder sollten im Anschluss zwischen den Figuren wählen. Frühere Studien hatten behauptet, dass Babys instinktiv die helfende Figur bevorzugten – ein vermeintlicher Beleg für angeborene Moral. Doch die Ergebnisse der aktuellen Studie zeichnen ein anderes Bild: Rund die Hälfte der Kinder entschied sich für die helfende Figur, während die andere Hälfte die schubsende Figur wählte. „Die Kinder zeigten also keine Vorliebe für die Figur, die sich prosozial verhalten und einer anderen geholfen hat“, erläutert Markus Paulus.

Weltweites Forschungsnetzwerk schafft Klarheit

Die Studie ist das Ergebnis einer groß angelegten Zusammenarbeit von 40 Teams, die auf die Verhaltensbeobachtung von Kleinkindern spezialisiert sind. Neben der LMU waren auch deutsche Einrichtungen wie die Universität Bochum, die Universität Göttingen und das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin beteiligt. „Die Idee des weltweiten Verbundprojekts zur Säuglingsforschung ist sehr innovativ und vielversprechend, um Befunde zu überprüfen“, sagt Markus Paulus. Die Forschung zeige, wie wichtig es sei, bestehende Erkenntnisse immer wieder auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen.

Wann beginnt Mitgefühl?

Neben Moral untersuchte das Team der LMU auch die Entwicklung von Mitgefühl bei Kleinkindern. In einer Längsschnittstudie verfolgten sie die emotionale Entwicklung von 127 Kindern im Alter von sechs bis 18 Monaten. Bereits mit 18 Monaten beginnen Kinder, Mitgefühl zu zeigen. Dies äußert sich in ihrer Mimik oder durch andere Verhaltensweisen, etwa wenn sie auf das Leiden einer anderen Person reagieren, so die Forscher. „Um Mitgefühl zu erfahren, muss das Kind zwischen dem Selbst und der anderen Person unterscheiden können“, erklärt Paulus. Diese Fähigkeit entwickelt sich schrittweise ab dem zweiten Lebensjahr.

Eltern als Schlüssel zum Mitgefühl

Die Untersuchung brachte außerdem eine entscheidende Erkenntnis: Die elterliche Feinfühligkeit spielt eine zentrale Rolle. Kinder, deren Eltern besonders sensibel auf ihre Bedürfnisse eingingen, entwickelten früher und stärker die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen. „Ein Kind könnte nicht überleben ohne feinfühlige Bezugspersonen, die mitfühlend handeln. Die Kinder lernen von ihnen, mit negativen Emotionen umzugehen“, betont Paulus. Das soziale Umfeld präge die Entwicklung des Mitgefühls maßgeblich.

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Die Forscher beobachteten die Kinder in verschiedenen Spielsituationen, etwa wenn eine Person einen Schmerz simulierte oder lachte. Sie verglichen, wie die Kinder auf positive und negative Emotionen reagierten. Dabei zeigte sich, dass Mitgefühl weit mehr ist als bloße emotionale Ansteckung. Es erfordert kognitive Fähigkeiten, wie das Erfassen der Situation und die Fähigkeit, sich in die Perspektive der anderen Person hineinzuversetzen.

Mitgefühl als Basis für prosoziales Handeln

Mitgefühl ist für die soziale Entwicklung von Kindern von entscheidender Bedeutung. Es motiviert zu prosozialem Verhalten und ermöglicht es, angemessen auf die Bedürfnisse anderer einzugehen. „Mitgefühl hilft uns, auf die Notlage anderer zu reagieren und adäquat damit umzugehen. Es ist eine Motivation, für andere zu handeln, sich für andere einzusetzen“, erklärt die Co-Autorin der Studie, Tamara Becher. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass Mitgefühl weder angeboren ist noch isoliert entsteht, sondern durch soziale Interaktionen und Vorbilder erworben wird.

Moral und Mitgefühl sind nicht mit in die Wiege gelegt

Die Studienergebnisse liefern wichtige Impulse für die Entwicklungspsychologie. Sie zeigen, dass weder Moral noch Mitgefühl angeborene Eigenschaften sind. Stattdessen entstehen sie im Verlauf der frühen Kindheit durch soziale Erfahrungen und Bindungen. Besonders wichtig für die Entwicklung von Kindern sind daher feinfühlige Bezugspersonen, die den richtigen Umgang mit Emotionen und Moral vorleben.

Was du dir merken solltet:

  • Moral ist nicht angeboren: Eine internationale Studie zeigt, dass Kleinkinder unter zehn Monaten noch nicht zwischen gutem und schlechtem Verhalten unterscheiden können.
  • Mitgefühl entsteht im zweiten Lebensjahr: Ab etwa 18 Monaten entwickeln Kinder die Fähigkeit, Mitgefühl zu zeigen, wobei elterliche Feinfühligkeit eine entscheidende Rolle spielt.
  • Soziale Interaktionen prägen Moral und Mitgefühl: Beide Fähigkeiten erlernen Kleinkinder erst durch die Beziehung zu Bezugspersonen und soziale Erfahrungen; es sind keine angeborenen Eigenschaften.

Übrigens: Gutes Aussehen fördert prosoziales Verhalten: Wer sich schön fühlt, zeigt laut einer neuen Studie mehr Großzügigkeit und eine höhere Bereitschaft zu spenden – allein durch die eigene Wahrnehmung. Mehr dazu erfährst du in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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