Therapie erst in Monaten? – Neues Online-Tool schützt Jugendliche sofort vor psychischer Erkrankung
Immer mehr Jugendliche leiden unter psychischen Belastungen und bekommen keine professionelle Unterstützung. Ein Online-Programm senkt präventiv das Erkrankungsrisiko.

Laut Bundespsychotherapeutenkammer fehlen rund 7000 Kassensitze – dadurch bleibt auch vielen Jugendlichen der Zugang zu dringend benötigter Hilfe versperrt. © Pexels
Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen nehmen zu. Viele leiden unter Ängsten, Überforderung oder anhaltend gedrückter Stimmung – oft lange, ohne dass es jemand bemerkt. An der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd hat Laya Lehner gemeinsam mit vier weiteren Standorten ein Online-Programm entwickelt, das Jugendlichen frühzeitig helfen soll – bevor aus ersten Belastungen ernsthafte Erkrankungen entstehen.
Denn während der Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe wächst, werden Termine zur Mangelware. In vielen Regionen warten Jugendliche monatelang auf einen Platz – wenn sie überhaupt einen finden. StresSOS heißt das Online-Tool. Es soll verhindern, dass anhaltender Stress bei Jugendlichen in eine psychische Erkrankung mündet.
Online-Training reduziert Krankheitsrisiko deutlich
1.118 Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren nahmen an der Studie teil. Sie wurden zufällig einer von zwei Gruppen zugeteilt. Eine Gruppe erhielt das StresSOS-Training. Die andere bekam ein Placebo-Angebot.
Ein Jahr später war das Ergebnis eindeutig: In der Trainingsgruppe entwickelten deutlich weniger Jugendliche psychische Symptome. Während in der Kontrollgruppe 28 Prozent erkrankten, waren es mit StresSOS nur 21 Prozent. Bei jenen, die das Programm aktiv nutzten, blieben sogar 86 Prozent psychisch gesund.
Acht Einheiten – flexibel und alltagstauglich
Das Programm besteht aus acht Einheiten, die wöchentlich freigeschaltet werden. Die Inhalte sind multimedial aufbereitet – mit Texten, Videos und Audios. Jugendliche lernen darin, wie Stress entsteht und wie man ihm begegnet.
Beispiele aus dem Alltag helfen: Prüfungsdruck, soziale Konflikte, Zukunftsangst. Die Jugendlichen lösen kleine Aufgaben, beantworten Fragen oder spielen ein Quiz. Alles am eigenen Handy oder Laptop, wann immer sie wollen.
Was oft bezweifelt wird, funktioniert – niedrigschwellige Online-Hilfe kommt an
Online-Programme wie StresSOS erreichen Jugendliche dort, wo sie sowieso sind: im Netz. Sie lassen sich leicht in den Alltag integrieren und das ohne Termin, ohne Wartezeit, ohne Scham. Lehner erklärt: „Gerade bei so vielen Betroffenen brauchen wir Angebote, die funktionieren und leicht erreichbar sind.“
Genau das bietet das StresSOS-Konzept: Einfache Technik, klare Inhalte, echte Wirkung. Gerade im Bereich der Vorbeugung habe es bislang kaum überzeugende Daten gegeben, erklärt die Studienautorin:
Es ist etwas Besonderes, dass wir zeigen konnten, wie Online-Prävention wirklich hilft.
Die Zahlen sind ermutigend – auch deshalb, weil viele Jugendliche noch immer nicht über ihre Probleme sprechen. Ein anonymes, digitales Angebot senkt die Hürden und wirkt genau dort, wo viele bisher durchrutschten.
Früher ansetzen statt später reagieren – Prävention wirkt nur gezielt
Vor Beginn füllten die Jugendlichen einen Online-Fragebogen aus, um ihren psychischen Zustand einzuschätzen. Nur wer keine akuten Symptome zeigte, konnte teilnehmen. So wollte das Forschungsteam gezielt vorbeugen – und nicht erst reagieren, wenn bereits eine Erkrankung vorliegt. Genau darin liegt der Unterschied zur klassischen Therapie: Prävention beginnt deutlich früher.
Neben der Online-Studie testete das Team auch eine Variante im Präsenzunterricht. Acht Sitzungen mit Trainern, direkt in der Schule. 510 Jugendliche machten mit. Ergebnis: Alle lernten, wie man besser mit Stress umgeht. Doch eine Besserung der Symptome zeigte sich nur bei Jugendlichen, die vorher schon psychisch belastet waren. Wer gesund war, blieb es – aber profitierte kaum messbar.
Woran erkennt man psychische Probleme?
Wenn Jugendliche psychisch belastet sind, zeigen sie oft Warnzeichen – manchmal deutlich, manchmal sehr still. Eltern, Lehrkräfte und Bezugspersonen sollten besonders auf folgende Symptome achten:
Emotionale Anzeichen
- Anhaltende Traurigkeit oder Reizbarkeit: Stimmungsschwankungen über Wochen, häufiges Weinen oder grundlose Wut
- Rückzug und Isolation; Wenn Jugendliche Freunde meiden oder sich aus Hobbys zurückziehen
- Verlust von Freude: Dinge, die früher Spaß gemacht haben, interessieren plötzlich nicht mehr
Körperliche Signale
- Schlafprobleme: Einschlafstörungen, häufiges Aufwachen oder extreme Müdigkeit tagsüber
- Appetitveränderungen: Starker Gewichtsverlust oder -zunahme, Essverweigerung oder unkontrolliertes Essen
- Kopf- oder Bauchschmerzen ohne körperliche Ursache: Häufige psychosomatische Beschwerden, gerade vor Schule oder Terminen
- Sätze wie „Ich kann nicht mehr“ oder „Es wäre besser, wenn ich nicht da wäre“: Unbedingt ernst nehmen – sie können Hinweise auf suizidale Gedanken sein
Deutschlandweites Projekt in den Startlöchern
Im Rahmen ihrer Promotion entwickelte Lehner auch ein Testverfahren: MAICA (Multidimensional Anxiety Inventory for Children and Adolescents) – ein Fragebogen speziell für Kinder und Jugendliche. Er erkennt frühe Symptome von Angst und Depression, die oft übersehen werden.
In zwei klinischen Studien zeigte MAICA verlässlich, welche Jugendlichen besonders gefährdet sind: Wer unter innerem Stress leidet, antwortet anders – und erzielt deutlich höhere Werte als unbelastete Gleichaltrige. Damit liefert das Verfahren eine wichtige Grundlage für gezielte Prävention und wird nun bundesweit an Schulen eingesetzt.
Schulen wie das Erich-Kästner-Gymnasium in Eislingen machen bei dem bundesweiten Projekt mit, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird. Insgesamt sind rund 15.000 Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland dabei – mit dem Ziel, die psychische Gesundheit junger Menschen früh zu stärken und Belastungen gar nicht erst entstehen zu lassen.
Kurz zusammengefasst:
- Ein Online-Programm mit acht Einheiten kann das Risiko psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen deutlich senken – selbst ohne akute Symptome.
- Wer StresSOS aktiv nutzt, bleibt mit höherer Wahrscheinlichkeit psychisch gesund – bei 86 Prozent der Teilnehmer traten keine Beschwerden auf.
- Digitale Prävention erreicht Jugendliche früh, anonym und flexibel – besonders dort, wo reale Therapieplätze fehlen oder schwer erreichbar sind.
Übrigens: The Lancet warnt vor einer globalen Gesundheitskrise. Fast eine halbe Milliarde Jugendliche könnten bis 2030 übergewichtig sein – Depressionen und soziale Unsicherheit nehmen ebenfalls drastisch zu. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Pexels