Adipositas verstehen – Warum Abnehmen nicht einfach Kopfsache ist
Warum viele trotz Diät nicht abnehmen: Eine Expertin erklärt, wie Gene, Hormone und neue Medikamente Adipositas beeinflussen.

Adipositas hat viele Ursachen – oft wirken innere Prozesse stärker als jede Diät. Neue Medikamente und Erkenntnisse machen Hoffnung auf gezielte Hilfe. © Unsplash
Abnehmen bei Adipositas – für viele Betroffene bleibt das eine frustrierende Daueraufgabe. Trotz Diäten und Bewegung will das Gewicht einfach nicht dauerhaft sinken. Warum das so ist, erläutert Prof. Dr. Kerstin Stemmer von der Universität Augsburg. Die Expertin für Molekulare Zellbiologie, Biochemie und Molekularbiologie erklärt, wie stark genetische Faktoren das Körpergewicht beeinflussen und welche Rolle neue Medikamente wie Semaglutid und Tirzepatid in der Behandlung von Adipositas spielen könnten.
Warum Adipositas mehr ist als nur Übergewicht
Adipositas beginnt bei einem Body-Mass-Index (BMI) von 30. Aber die Zahl allein sagt wenig aus über das Ausmaß der Belastung. Wer darunter leidet, kennt die ständigen Kämpfe: mit der Waage, mit sich selbst, mit Blicken im Freibad oder Kommentaren beim Arzt. Seit 2020 ist Adipositas offiziell als chronische Krankheit anerkannt – ein wichtiger Schritt. Denn damit wird klar: Hier geht es nicht um Disziplin. Es geht um medizinische Behandlung.
Die Zahlen zeigen, wie dringend das Thema ist. 43 Prozent der Erwachsenen weltweit sind laut aktuellen Erhebungen übergewichtig, 16 Prozent sogar fettleibig, also adipös. Besonders alarmierend: Seit 2022 gibt es global erstmals mehr übergewichtige als untergewichtige Kinder und Jugendliche. Das Gesundheitsproblem betrifft damit längst nicht mehr nur Erwachsene. Es beginnt immer früher und wird immer schwerer zu stoppen.
Adipositas und Jo-Jo-Effekt – Warum Abnehmen oft langfristig scheitert
Warum ist es so schwer, Gewicht zu verlieren? Prof. Dr. Kerstin Stemmer erklärt:
Viele denken: Man muss sich nur zusammenreißen. Aber so einfach ist es nicht. Die Genetik spielt eine wichtige Rolle.
Der Körper merkt sich das alte Gewicht und will es zurück.

Wer abnimmt, zwingt seinen Stoffwechsel zum Sparmodus. Der Grundumsatz sinkt, oft für Jahre. Selbst wenn man wieder normal isst, speichert der Körper mehr Fett, als er verbraucht. Und dann beginnt der Jo-Jo-Effekt.
Neue Medikamente versprechen Hilfe – aber nicht für immer
Moderne Medikamente sollen helfen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Besonders sogenannte GLP-1-Rezeptoragonisten wie Semaglutid sind in aller Munde. Eine Spritze pro Woche und der Appetit sinkt spürbar. Die Wirkung: Im Durchschnitt verlieren Patientinnen und Patienten rund 15 Prozent ihres Körpergewichts. Für viele ein Hoffnungsschimmer.
Seit 2024 ist auch Tirzepatid erhältlich – ein Wirkstoff, der zwei Hormone gleichzeitig beeinflusst. Erste Studien zeigen: Die Gewichtsabnahme ist sogar noch größer als bei Semaglutid. Aber: Die Medikamente helfen nur, solange sie regelmäßig gespritzt werden. Wird die Behandlung abgesetzt, kehrt der Hunger zurück und mit ihm die Pfunde.
Nebenwirkungen? – Möglich, aber oft nur vorübergehend
Wie bei jedem Medikament gibt es auch hier Nebenwirkungen. Besonders zu Beginn der Behandlung kann es zu Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall kommen. Diese Beschwerden verschwinden meist nach ein paar Wochen. Schwerwiegende Probleme treten nur selten auf. Trotzdem sollten Patienten engmaschig betreut werden.
Das Medikament hilft beim Einstieg, aber der Lebensstil ist entscheidend.
Prof. Dr. Kerstin Stemmer
Heißt: Wer dauerhaft Gewicht verlieren will, muss seine Ernährung umstellen, sich mehr bewegen und lernen, seinem Körper neue Routinen zu geben.
Fettzellen senden Signale – Neue Ansätze zur Behandlung von Adipositas
Stemmer untersucht mit ihrem Team auch, wie Fettzellen mit der Bauchspeicheldrüse kommunizieren. Sie sprechen von sogenannten extrazellulären Vesikeln – winzigen Bläschen, die Informationen transportieren. Diese enthalten Fette, Proteine oder genetisches Material. Und sie können die Insulinproduktion direkt beeinflussen.
„Wir konnten zeigen, dass Fettzellen tatsächlich direkt mit der Bauchspeicheldrüse kommunizieren können“, sagt Stemmer. Diese Entdeckung könnte neue Therapien ermöglichen, bei denen nicht nur Symptome behandelt werden, sondern auch die Ursachen. Denn bei Adipositas geht es nicht nur ums Gewicht. Es geht um ein gestörtes Zusammenspiel von Zellen, Hormonen und Organen.
Adipositas und Genetik – Warum Abnehmen oft biologisch blockiert wird
Inzwischen kennen Wissenschaftler mehrere Hundert Gene, die das Körpergewicht beeinflussen. Manche betreffen das Hungerzentrum im Gehirn, andere steuern die Fettverwertung oder den Kalorienverbrauch. Bei manchen Menschen reichen schon kleine Störungen aus und der Körper speichert mehr, als er braucht.
Deshalb wirkt bei manchen Diäten gar nichts. Und selbst intensiver Sport hilft manchen Menschen nicht beim Abnehmen. Wer betroffen ist, fühlt sich oft machtlos. Aber neue Erkenntnisse aus der Forschung zeigen: Es gibt Wege. Und es gibt Hoffnung.
Adipositas gezielt behandeln – Abnehmen braucht mehr als nur Medikamente
Der wichtigste Punkt: Adipositas ist keine Schwäche. Sie ist eine komplexe Krankheit mit vielen Ursachen. Wer darunter leidet, hat das Recht auf Hilfe – medizinisch, psychologisch und gesellschaftlich.
Die neuen Medikamente sind ein Werkzeug. Ein sehr wirksames. Aber sie sind kein Ersatz für Veränderung im Alltag. Und kein Freifahrtschein. Sie können jedoch dabei helfen, überhaupt wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Und genau das brauchen viele Betroffene – einen Startpunkt, der nicht von Frust und Rückschlägen geprägt ist. Denn manchmal reicht es schon, wenn der Körper nicht länger gegen einen arbeitet.
Kurz zusammengefasst:
- Adipositas ist eine chronische Krankheit, die durch genetische, hormonelle und stoffwechselbedingte Faktoren geprägt ist – Willenskraft allein reicht beim Abnehmen oft nicht aus.
- Moderne Medikamente wie Semaglutid und Tirzepatid können das Hungergefühl regulieren und helfen beim Abnehmen – ihre Wirkung hält jedoch nur bei konsequenter Anwendung an.
- Langfristiger Erfolg erfordert eine Kombination aus Therapie und Lebensstiländerung, denn nur so lassen sich Gewicht und Gesundheit nachhaltig stabilisieren.
Übrigens: Wer bei Adipositas auf Intervallfasten setzt, sollte genau hinschauen: Ein zu enges Essenszeitfenster kann laut einer Studie das Risiko für Herz-Kreislauf-Todesfälle deutlich erhöhen – vor allem bei Vorerkrankungen. Mehr dazu in unserem Artikel.
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