„Schlafendes“ X-Chromosom wird zur Waffe gegen Demenz – Warum ältere Frauen länger klar denken
Bei Frauen wird im Alter das eigentlich „schlafende“ X-Chromosom aktiv. Jetzt hoffen Forscher auf neue Therapien gegen kognitiven Verfall.

Leichtigkeit im Alter: Ein lange schlafendes X-Chromosom könnte erwacht sein und verleiht dem Denken neuen Schwung. © Pexels
Ein bislang kaum beachteter Mechanismus könnte erklären, warum ältere Frauen geistig oft länger fit bleiben als Männer: Das zweite X-Chromosom, das normalerweise inaktiv bleibt, wird im Alter plötzlich aktiv. Das berichten Wissenschaftler der University of California, San Francisco (UCSF) im Rahmen einer Studie, die im Fachjournal Science Advances veröffentlicht wurde.
Das ruhende X erwacht im Alter
Bei weiblichen Mäusen zeigten sich auffällige Veränderungen im Gehirn, sobald sie etwa 20 Monate alt waren – das entspricht rund 65 Menschenjahren. Das für gewöhnlich „stumme“ X-Chromosom begann, eine Reihe von Genen im Hippocampus zu aktivieren – einer Gehirnregion, die für Lernen und Gedächtnis zuständig ist und im Alter stark abbaut. Insgesamt identifizierte das Forschungsteam rund 20 solcher Gene.
„Das Altern hatte das schlafende X geweckt“, sagte Studienleiterin Dena Dubal. Sie ist Professorin für Neurologie an der UCSF. Ihrer Einschätzung nach könnte dieses Erwachen des X-Chromosoms dazu beitragen, den geistigen Abbau bei Frauen zu verlangsamen. Margaret Gadek, Erstautorin der Studie, ergänzt:
Uns war sofort klar: Das könnte erklären, warum das weibliche Gehirn beim normalen Altern widerstandsfähiger bleibt – denn Männer haben dieses zusätzliche X nicht.
Ein stilles Gen entfaltet im Alter überraschend neue Kräfte im Gehirn
Besonders auffällig war ein Gen namens PLP1. Es ist an der Bildung von Myelin beteiligt – einer Schutzschicht um die Nervenfasern, die wichtig für die Reizweiterleitung im Gehirn ist. Ältere weibliche Mäuse hatten deutlich mehr PLP1 im Hippocampus als gleichaltrige männliche Tiere.
Um die Wirkung zu testen, schleusten die Forscher zusätzliches PLP1 gezielt in das Gehirn alter Mäuse – sowohl bei Weibchen als auch bei Männchen. Das Ergebnis: Beide Gruppen schnitten in Tests zu Lernen und Gedächtnis besser ab als Kontrolltiere.
Der Ursprung dieser Entdeckung liegt in einem ausgeklügelten Versuchsaufbau: Die Wissenschaftler kreuzten zwei verschiedene Mauslinien und machten gezielt ein X-Chromosom still. Da die Erbinformationen beider Linien bekannt waren, ließ sich später nachvollziehen, welches Gen von welchem X-Chromosom kam.

So ließ sich genau zeigen, dass das eigentlich inaktive X-Chromosom doch noch Gene exprimieren kann – und zwar gezielt im höheren Alter.
Diese Ergebnisse zeigen, dass das stille X bei Frauen im höheren Alter tatsächlich wieder aktiv wird – und wahrscheinlich dazu beiträgt, den geistigen Abbau zu verlangsamen.
Dena Dubal
Forscher analysieren auch menschliches Hirngewebe
Das Team vermutet, dass dieser Mechanismus nicht nur bei Mäusen auftritt: Dafür sprechen erste Untersuchungen an menschlichem Gewebe. Die beiden Neurowissenschaftler Kaitlin Casaletto und Rowan Saloner vom Memory and Aging Center der UCSF analysierten gespendetes Gehirnmaterial älterer Männer und Frauen.
Ihr Ergebnis: Nur bei Frauen fanden sich erhöhte PLP1-Werte in Hirnregionen, die dem Hippocampus der Mäuse entsprechen. Dena Dubal sieht darin großes Potenzial für neue Therapien gegen Kognitionsverlust im Alter – auch im Falle von Erkrankungen wie Alzheimer. Dubal gibt sich hoffnungsvoll: „Der Verfall kognitiver Leistung ist eines der größten medizinischen Rätsel überhaupt. Doch im alternden Gehirn ist Veränderung möglich – und das X-Chromosom zeigt uns, was möglich ist.“
Kurz zusammengefasst:
- Bei älteren weiblichen Mäusen wird ein zuvor stilles X-Chromosom plötzlich wieder aktiv und schaltet rund 20 Gene an, die das Gehirn unterstützen.
- Besonders das Gen PLP1 stärkt die Signalübertragung zwischen Nervenzellen und verbessert so Gedächtnis und Lernfähigkeit.
- Forscher der UCSF vermuten, dass dieser Mechanismus auch bei Frauen existiert und ihnen das zusätzliche X-Chromosom einen kognitiven Vorteil im Alter verschaffen könnte.
Übrigens: Auch junge Erwachsene sollten ihr Gedächtnis nicht unterschätzen. Schon mit 24 zeigen Blutwerte messbare Hinweise auf ein späteres Alzheimer-Risiko – mehr dazu in unserem Artikel.
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