Denken sichtbar machen: Forscher lesen mittels Kamera den kognitiven Zustand am Gesicht ab
Forscher haben untersucht, wie Regungen im Gesicht akute kognitive Zustände, wie Konzentration und mentale Erschöpfung, spiegeln und eröffnen damit neue Wege im Umgang mit ADHS, Demenz und Autismus.

Ein konzentrierter Gesichtsausdruck – feine Regungen verraten, wie aufmerksam oder gedanklich fokussiert eine Person gerade ist. © Pexels
Die eigene Mimik sagt mehr aus, als vielen bewusst ist. Nicht nur Freude, Stress oder Müdigkeit zeigen sich im Gesicht, auch der innere Denkzustand wird sichtbar. Eine neue Studie des Ernst Strüngmann Instituts in Frankfurt hat herausgefunden: Wer gerade hochkonzentriert, verwirrt oder motiviert ist, trägt diese Zustände offen zur Schau. Die Wissenschaftler konnten erstmals belegen, dass sich kognitive Zustände direkt im Gesicht ablesen lassen, bei Affen und Mäusen. Und dieses Prinzip funktioniert vermutlich nicht nur bei Tieren.
Gesicht und kognitiver Zustand sind verbunden
Die Forscher ließen Affen und Mäuse in einer simulierten Umgebung nach Nahrung suchen. Was dabei auffiel: Je nach innerem Zustand zeigten die Tiere ganz bestimmte Gesichtsbewegungen, sei es Anspannung, Aufmerksamkeit oder mentale Erschöpfung. Die Gesichtszüge verrieten auch, wie gut sie die Aufgabe lösen würden.
Jeder kognitive Zustand zeigt ein typisches Muster im Gesicht.
Studienautor Alejandro Tlaie Boria
Diese Muster waren bei Affen und Mäusen sogar vergleichbar. Damit scheint das Gesicht eine Art Fenster zum Gehirn zu sein, über Artgrenzen hinweg.
Denkprozesse spiegeln sich in der Mimik
Für die Auswertung nutzten die Forscher ein spezielles Computermodell. Es kombinierte Reaktionszeit und Gesichtsausdruck und konnte damit überraschend genau vorhersagen, wie erfolgreich das Tier die Aufgabe lösen würde. Dabei ging es nicht um Emotionen, sondern um innere Prozesse wie Fokus, Motivation oder Entscheidungsfreude.

Das Modell konnte erkennen, ob das Tier zögert, sich sicher ist oder im Begriff war, aufzugeben. Für die Verhaltensforschung bedeutet das: Man muss nicht mehr raten, was im Kopf passiert, man kann es vom Gesicht ablesen.
Mit der Kamera das Gesicht lesen
Die Methode funktioniert ohne Sprache und ohne komplexe Technik, sie braucht nur eine Kamera und das passende Modell. Das könnte vieles verändern: Für Kinder, die noch nicht über ihre Gedanken sprechen können. Für ältere Menschen mit Demenz, deren Verhalten oft missverstanden wird. Oder für Menschen mit neurologischen Erkrankungen, die sich nicht äußern können.
Wenn sich die Methode auch beim Menschen bewährt, könnte sie Alltag und Medizin gleichermaßen beeinflussen. Ein Blick ins Gesicht könnte dann verraten, ob jemand gerade abschweift, hochkonzentriert ist oder gedanklich längst aufgegeben hat.
Neue Chancen für die Forschung zu Autismus und ADHS
Die Studie öffnet eine Tür zu bisher schwer zugänglichen Zuständen. Besonders spannend ist das für Menschen, die sich nicht sprachlich mitteilen können, etwa bei Autismus, Demenz oder dem Locked-in-Syndrom. Wenn das Gesicht Hinweise auf Denkprozesse liefert, könnten Fachleute den mentalen Zustand besser einschätzen.
Auch bei ADHS eröffnet sich eine neue Perspektive. Aufmerksamkeit ließe sich objektiv erfassen, ohne Fragebögen oder Verhaltenstests. „Gesichtsausdrücke könnten helfen, verschiedene ADHS-Typen zu unterscheiden“, so die Forscher. Damit wäre eine gezieltere Therapie möglich.
Was das für Betroffene bedeutet
Wer selbst mit Aufmerksamkeitsproblemen kämpft oder Angehörige mit kognitiven Erkrankungen hat, kennt das Gefühl: Vieles bleibt im Verborgenen. Was denkt der andere gerade? Ist er überfordert, gelangweilt, wach? Die neue Studie macht Hoffnung, diese Unsichtbarkeit zu durchbrechen und Denkzustände sichtbar zu machen. Für viele wäre das mehr als nur ein wissenschaftlicher Fortschritt. Es wäre ein Werkzeug, um verstanden zu werden, ohne ein einziges Wort sagen zu müssen.
Kurz zusammengefasst:
- Im Gesicht spiegeln sich nicht nur Emotionen, sondern auch kognitive Zustände wie Aufmerksamkeit, Motivation oder mentale Erschöpfung.
- Diese inneren Zustände lassen sich mithilfe von Kameraaufnahmen und Modellen objektiv erfassen – bislang allerdings nur bei Affen und Mäusen.
- Die Methode könnte neue Möglichkeiten in der Diagnose und Therapie von ADHS, Demenz und Autismus eröffnen, besonders bei Menschen ohne sprachliche Ausdrucksfähigkeit.
Übrigens: Wer oft durch TikTok oder Instagram-Reels scrollt, trainiert damit unbewusst das Gehirn um – weg vom langsamen, gründlichen Denken hin zu schnellem, oberflächlichem Konsum. Mehr dazu in unserem Artikel.
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