Wissenschaftler finden im Gehirn neue Ursachen von Angststörung
Immunzellen im Gehirn steuern Angst wie Gas und Bremse und könnten die Ursachen einer Angststörung erklären.
Bei einer Angststörung kann das Gefühl plötzlich da sein – ohne erkennbaren Grund, aber mit voller Wucht. © Pexels
Angst hat eine klare Funktion: Sie soll uns wachsam halten und vor Gefahren schützen. Doch wenn sie das Denken beherrscht, wird sie zur Krankheit. Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Angststörung – häufig ohne zu wissen, was genau sie auslöst. Eine neue Studie liefert nun überraschende Ursachen dieser Störung. Forscher der University of Utah Health haben entdeckt, dass Angst nicht allein in den Nervenzellen entsteht. Auch Immunzellen im Gehirn spielen dabei eine zentrale Rolle.
Diese Zellen, sogenannte Mikroglia, gelten eigentlich als die „Wächter“ des Gehirns. Sie beseitigen Abfallstoffe und schützen das Nervensystem vor Entzündungen. Doch offenbar beeinflussen sie auch Gefühle – sehr direkt sogar. Die Forschungsarbeit beschreibt zwei Zelltypen, die Angst wie Gas und Bremse steuern.
Zwei Zellgruppen regeln Angstreaktionen
Etwa drei Viertel der Mikroglia gehören zur sogenannten Nicht-Hoxb8-Gruppe, ein Viertel zur Hoxb8-Gruppe. Trotz ähnlicher Gene übernehmen sie gegensätzliche Aufgaben.
- Hoxb8-Mikroglia drosseln übermäßige Angst (Bremse).
- Nicht-Hoxb8-Mikroglia verstärken Angst und Stressverhalten (Gas).
Um diese Funktionen zu prüfen, transplantierten die Wissenschaftler verschiedene Zelltypen in Mäuse. Tiere, die nur die „Gas“-Zellen erhielten, zeigten starkes Angstverhalten und putzten sich zwanghaft. Tiere mit den „Brems“-Zellen blieben ruhig.
„Defekte Hoxb8-Mikroglia sind ursächlich für chronische Angst und pathologisches Überputzen“, heißt es dazu in der Studie.
Immunzellen liefern Ursachen einer Angststörung
Bislang galt: Angst entsteht durch Signale in Nervenzellen und durch Botenstoffe wie Serotonin. Das Team aus Utah konnte nun zeigen, dass die Immunzellen des Gehirns einen ebenso großen Einfluss haben.
In Verhaltenstests analysierten die Forscher, wie lange sich Mäuse putzten und wie viel Zeit sie in offenen Bereichen verbrachten – ein Maß für Angst. Weibchen mit mutierten Hoxb8-Zellen putzten sich durchschnittlich 1.290 Sekunden, Kontrolltiere nur 570 Sekunden. Im Angsttest hielten sich die betroffenen Tiere nur 25 Prozent der Zeit in offenen Flächen auf, die Vergleichsgruppe dagegen über 50 Prozent.
Männliche Mäuse reagierten weniger stark – ähnlich wie bei menschlichen Angststörungen, die häufiger Frauen betreffen.
Gleichgewicht zwischen Zelltypen ist entscheidend
Die Experten entwickelten aus ihren Ergebnissen das sogenannte „Gaspedal/Bremse“-Prinzip. Angst entsteht demnach aus dem Zusammenspiel beider Zelltypen. Nur wenn Gas und Bremse im Gleichgewicht sind, bleibt das System stabil.
Mit einer optogenetischen Methode aktivierten sie die Zellen im Gehirn gezielt mit Licht. Sobald die „Gas“-Zellen angeregt wurden, begannen die Tiere hektisch sich zu putzen. Wurden beide Zellgruppen gleichzeitig aktiviert, blieb das Verhalten normal.
Diese Versuche zeigen: Mikroglia steuern Angst aktiv mit. Ohne die bremsenden Hoxb8-Zellen gerät das System außer Kontrolle – Angst und Stress nehmen überhand.
Angststörungen künftig direkt im Gehirn behandeln
Die Erkenntnisse könnten erklären, warum klassische Medikamente oft nicht ausreichen. Wenn die Ursachen im Immunsystem des Gehirns liegen, greifen Mittel, die nur auf Botenstoffe wirken, zu kurz.
Seniorautor Mario Capecchi, Nobelpreisträger und Mitautor der Studie, sagt: „Diese beiden Populationen von Mikroglia haben entgegengesetzte Rollen. Zusammen sorgen sie dafür, dass Angst auf das Umfeld abgestimmt bleibt.“
Künftig könnten Medikamente oder Immuntherapien darauf abzielen, das Gleichgewicht zwischen beiden Zellgruppen zu stabilisieren – etwa indem die Bremse gestärkt oder das Gas gedämpft wird.
Wenn sich diese Ergebnisse beim Menschen bestätigen, könnten neue Therapien entstehen, die direkt im Immunsystem des Gehirns ansetzen. Angst wäre dann nicht mehr nur eine psychische, sondern auch eine biologische Reaktion – und behandelbar an der Wurzel.
Kurz zusammengefasst:
- Forscher der University of Utah Health haben entdeckt, dass die Ursachen einer Angststörung nicht nur in den Nerven, sondern auch in Immunzellen des Gehirns liegen.
- Zwei Gruppen sogenannter Mikroglia steuern Angst wie Gas und Bremse – die einen verstärken sie, die anderen halten sie in Schach.
- Das Gleichgewicht dieser Zelltypen könnte neue Wege eröffnen, Angststörungen künftig gezielter zu behandeln.
Übrigens: Angst lässt sich im Gehirn buchstäblich ausschalten – wenn Forscher die Balance in der Amygdala wiederherstellen, verschwinden die Symptome. Mehr dazu in unserem Artikel.
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