Licht, Tunnel, Körper verlassen: Was im Gehirn bei Nahtoderfahrungen passiert
Nahtoderfahrungen folgen einem messbaren Muster im Gehirn: Ein neues Modell erklärt physiologische, neurochemische und psychologische Abläufe.

Licht, Tunnel, tiefer Frieden – ein neues Modell erklärt, was im Gehirn passiert, wenn das Leben am seidenen Faden hängt. © Midjourney
Was passiert im Kopf eines Menschen, wenn das Herz plötzlich stillsteht? Warum berichten Überlebende von Lichttunneln, Visionen oder einem tiefen Frieden – mitten im medizinischen Ausnahmezustand? Ein Forschungsteam unter Leitung der Universität Lüttich hat jetzt ein Modell entwickelt, das erklärt, was hinter den oft rätselhaften Nahtoderfahrungen steckt. Ihre Studie zeigt: Die Erlebnisse sind kein Zufall – sondern folgen einem klaren Muster im Gehirn.
Das sogenannte NEPTUNE-Modell (Neurophysiological Evolutionary Psychological Theory Understanding Near-death Experience) verbindet erstmals medizinische, psychologische und evolutionäre Erkenntnisse. Die Forscher haben zahlreiche Studien zusammengeführt – darunter auch Daten von Menschen in Lebensgefahr und aus der Hirnforschung mit psychedelischen Substanzen. Heraus kam ein Bild, das viele Betroffene endlich einordnen können.
Wenn das Herz stehen bleibt, reagiert das Gehirn in Sekunden
Bei einem Herzstillstand bricht die Sauerstoffversorgung des Gehirns rasch zusammen. Gleichzeitig steigt der Kohlendioxidgehalt im Blut, und der Energiestoffwechsel gerät aus dem Takt. Das Gehirn reagiert sofort: Nervenzellen schalten in den Überlebensmodus. In bestimmten Regionen – etwa im Bereich zwischen Schläfen- und Scheitellappen – entsteht eine extreme Übererregung. Genau dort, wo unser Selbstbild, die Körperwahrnehmung und das Raumgefühl verarbeitet werden.
Das erklärt, warum viele Menschen, die Nahtoderfahrungen gemacht haben, berichten, sie hätten ihren eigenen Körper von außen gesehen. Oder sie seien durch einen Tunnel auf ein helles Licht zugeflogen. Manche erleben einen schnellen Lebensrückblick – andere hören plötzlich Stimmen verstorbener Angehöriger oder spüren eine unbeschreibliche Ruhe.
Berichte von Tunnel, Licht und Frieden sind biologisch erklärbar
Nahtoderfahrungen wirken oft mystisch – doch das NEPTUNE-Modell zeigt: Sie verlaufen nach einem biologisch nachvollziehbaren Muster. Die Forscher beschreiben drei aufeinanderfolgende Phasen:
- Phase 1 – Zusammenbruch der Hirnaktivität: Unter extremem Stress – etwa bei einem Herzstillstand – sinkt die Sauerstoffversorgung rapide. Der Energiestoffwechsel bricht zusammen, das Gehirn verliert seine gewohnte Steuerung.
- Phase 2 – Neurochemischer Sturm: Das Gehirn wird mit Botenstoffen überflutet. Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und weitere Neurotransmitter strömen in großen Mengen durch zentrale Hirnregionen.
- Phase 3 – Veränderung des Bewusstseins: Die massive Reizüberflutung löst Halluzinationen aus. Das Zeitempfinden verändert sich, das Ich-Gefühl löst sich auf, die Außenwelt erscheint irreal.
Diese Kaskade wirkt wie ein Notfallprogramm. Serotonin aktiviert Rezeptoren, die visuelle Effekte erzeugen. Dopamin verstärkt das emotionale Erleben. GABA – ein beruhigender Botenstoff, der überaktive Nervenzellen dämpft – und Endorphine lindern Angst und Schmerzen.
„Unser Modell bringt erstmals alle bekannten Mechanismen zusammen“, schreiben die Forscher – und liefern damit eine verständliche Erklärung für ein bisher rätselhaftes Phänomen.
Was Betroffene schildern, folgt einem inneren Schutzmechanismus
Nahtoderfahrungen treffen Menschen nicht zufällig. Untersuchungen zeigen: Wer zu lebhafter Vorstellung neigt oder Schlafphasen mit wachen Momenten vermischt – etwa bei REM-Schlaf-Störungen – hat ein höheres Risiko für solche Erlebnisse. Auch frühere Traumata oder intensive Tagträumerei könnten eine Rolle spielen.
Ein Teil des Phänomens lässt sich auch evolutionär deuten. Bei Tieren gibt es einen Totstellreflex – bei auswegloser Bedrohung fährt der Körper sämtliche Systeme herunter, um Energie zu sparen und Stress zu dämpfen. Möglicherweise greifen Menschen im Extremfall auf ähnliche Schutzmechanismen zurück. Die Dissoziation vom Körper könnte ein letzter Versuch des Gehirns sein, sich selbst zu schützen.
Nicht jeder erlebt Licht und Frieden – manche erleben Angst
Etwa fünf bis zehn Prozent der Menschen berichten im Lauf ihres Lebens von einer Nahtoderfahrung. Bei Überlebenden eines Herzstillstands ist es sogar jeder Fünfte. Doch nicht alle Erlebnisse sind angenehm: Neben Licht und Frieden berichten manche auch von dunklen, chaotischen oder sinnlosen Szenen. Warum das so ist, ist noch unklar.
Die Forscher wollen nun gezielt untersuchen, was genau im Gehirn passiert. Geplant sind Experimente mit bildgebenden Verfahren, wie etwa funktionelle MRTs, bei Patienten mit kritischem Gesundheitszustand. Dabei geht es nicht nur um Nahtoderfahrungen – sondern auch um eine mögliche Neubewertung des Hirntods. Denn in einigen Fällen zeigen EEG-Messungen nach dem Herzstillstand noch für Minuten ungewöhnlich starke Hirnaktivität.
Neue Forschung stellt Fragen zur Definition des Hirntods
Das NEPTUNE-Modell wirft grundsätzliche Fragen auf: Was bedeutet Bewusstsein? Wie lange ist ein Mensch nach dem klinischen Tod noch „da“? Und wie gehen Medizin und Gesellschaft mit diesen Grauzonen um? Noch gibt es keine klaren Antworten – aber erstmals eine wissenschaftlich fundierte Grundlage, um gezielt weiterzuforschen.
Für Menschen, die selbst eine Nahtoderfahrung gemacht haben oder jemanden kennen, dem das passiert ist, bringt das Modell einen wichtigen Schritt: Es gibt eine Erklärung, die nicht abwertet oder mystifiziert, sondern verständlich macht, was im Kopf passiert, wenn das Leben auf der Kippe steht.
Kurz zusammengefasst:
- Nahtoderfahrungen entstehen bei extremer körperlicher Bedrohung durch Sauerstoffmangel, CO2-Anstieg und eine Überaktivierung von Nervenzellen im Gehirn.
- Das NEPTUNE-Modell beschreibt drei Phasen: Zusammenbruch der Hirnaktivität, Ausschüttung von Botenstoffen und eine Veränderung des Bewusstseins.
- Erlebnisse wie Lichttunnel, Lebensrückblicke oder Verlassen des Körpers lassen sich biologisch erklären – sie dienen möglicherweise als Schutzmechanismus des Gehirns.
Übrigens: Während das NEPTUNE-Modell erklärt, was im Gehirn bei Nahtoderfahrungen passiert, zeigt eine neue Frankfurter Studie, wie unser Gehirn die Zukunft berechnet – Millisekunde für Millisekunde.
Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Midjourney