Du vor ich: Babys erinnern sich zuerst an das, was andere tun

Das Gedächtnis von Baby setzt anfangs auf andere: So lernen sie durch Beobachtung schneller, was wichtig ist – ein klarer Vorteil fürs Überleben.

Das Gedächtnis von Babys dreht sich um andere, nicht sie selbst

Babys und Kleinkinder sind in hohem Maß auf andere angewiesen und richten deshalb ihre Aufmerksamkeit auf das, was für diese wichtig ist. So entwickeln sie offenbar eine frühe Strategie, um die Welt zu verstehen und zu überleben. © Unsplash

Ein Kind sitzt vor dem Spiegel, tippt an die Scheibe und lacht. Irgendwann begreift es: Das dort bin ich. Ein kleiner Schritt für Erwachsene, aber ein entscheidender für die Entwicklung des jungen Erdenbürgers. Denn genau hier verändert sich auch, wie Erinnerungen abgespeichert werden. Das Gedächtnis von Babys funktioniert in den ersten Lebensmonaten völlig anders, als viele Eltern denken: Es orientiert sich nicht am eigenen Erleben, sondern am Verhalten anderer.

Forscherinnen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften sowie der Technischen Universität Nürnberg haben mit Kolleginnen aus Kopenhagen untersucht, wie sich das Erinnerungsvermögen in den ersten zwei Lebensjahren verändert. Die zentrale Erkenntnis der Studie: Solange Babys noch kein Bewusstsein für das eigene „Ich“ haben, erinnern sie sich besser an Dinge, die für andere wichtig sind.

Gedächtnis von Babys folgt am Anfang dem Blick nach außen

Erwachsene merken sich Informationen leichter, wenn sie selbst betroffen sind. Psychologen nennen das den Selbstreferenz-Effekt. Doch bevor Kleinkinder ihr Ich-Bewusstsein entwickeln, gilt eine andere Regel: Babys speichern bevorzugt Informationen, die andere betreffen.

Für Eltern ist diese Erkenntnis unmittelbar relevant. Denn sie bedeutet: Schon die Jüngsten profitieren stark davon, wenn Bezugspersonen Handlungen sichtbar vormachen. Ein Baby erinnert sich an das, was Mama oder Papa tut, stärker als an das, was es selbst erlebt.

Umbau im Gehirn um den 18. Monat

Der Übergang kommt meist im zweiten Lebensjahr. Kinder erkennen sich selbst im Spiegel und entwickeln damit ein erstes Selbstkonzept. Genau in diesem Moment verschiebt sich auch die Funktionsweise des Gedächtnisses.

  • Vorher: Kinder merken sich vor allem, welche Gegenstände oder Handlungen andere Personen wichtig finden.
  • Danach: Sie speichern zunehmend Informationen ab, die sie selbst betreffen.

Das erklärt auch, warum Kinder ab etwa 18 Monaten beginnen, auf Dinge zu zeigen und „meins“ zu sagen. Mit der wachsenden Eigenständigkeit wird das eigene Erleben wichtiger – auch im Gedächtnis.

Wenn Babys sich erkennen, speichert ihr Gedächtnis plötzlich anders

Um diesen Prozess sichtbar zu machen, führten die Forscherinnen ein Experiment mit 18 Monate alten Kindern durch und zeigten ihnen verschiedene Objekte. Manche waren den Kleinkindern selbst, andere einer Puppe zugeordnet. Bevor die Kleinen mit den Objekten spielen konnten, prüfte das Team, an welche Gegenstände sie sich erinnerten.

Studienleiterin Charlotte Grosse Wiesmann erklärt: „Die Selbsterkenntnis im Spiegel diente uns als Index für die Entwicklung des Selbstkonzepts.“ Das Ergebnis: Babys, die sich im Spiegel erkannten, erinnerten sich stärker an ihre eigenen Objekte. Kinder ohne Selbst­erkennung speicherten dagegen die Gegenstände der Puppe zuverlässiger.

Damit wurde klar: Mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins verändert sich das Erinnern – von der Orientierung am anderen hin zum Fokus auf sich selbst.

Die Forscherinnen haben einen Gedächtnistest mit 18 Monate alten Kindern gemacht und ihnen dabei neue Objekte gezeigt, die entweder ihnen selbst oder einem anderen Akteur zugeordnet wurden. © MPI CBS
Die Forscherinnen haben einen Gedächtnistest mit 18 Monate alten Kindern gemacht und ihnen dabei neue Objekte gezeigt, die entweder ihnen selbst oder einem anderen Akteur zugeordnet wurden. © MPI CBS

Evolutionärer Nutzen für Babys

Warum orientieren sich Babys anfangs so stark an anderen? Aus evolutionärer Sicht ist diese Strategie sinnvoll. In den ersten Lebensmonaten können Kinder kaum selbst handeln. Sie sind abhängig von Bezugspersonen.

Indem Babys beobachten, welche Handlungen Erwachsene ausführen und welche Dinge für sie wichtig sind, sammeln sie entscheidendes Wissen. Dieses Wissen bildet die Grundlage, um später eigenständig zu handeln. Mit wachsender Unabhängigkeit rückt das eigene Erleben in den Vordergrund.

Für Familien lassen sich aus den Ergebnissen klare Schlüsse ziehen. Wer sein Kind fördern möchte, sollte wissen, dass es nicht nur um eigene Erlebnisse geht. Gerade in den ersten zwei Lebensjahren prägt sich im Gedächtnis von Babys besonders stark das ein, was andere tun.

Das heißt:

  • Gemeinsame Aktivitäten, die für Kinder sichtbar und nachvollziehbar sind, verankern sich tiefer im Gedächtnis.
  • Rituale und Wiederholungen im Alltag wirken stabilisierend und erleichtern das Erinnern.
  • Das frühe „Zuschauen und Nachahmen“ bereitet den Boden für das spätere eigenständige Lernen.

Lernen durch Beobachten – ein Vorteil für die Praxis

Die Studie zeigt nicht nur, wie sich das Gedächtnis entwickelt, sondern liefert auch praktische Hinweise für Erziehung und Pädagogik.

  • Vor dem zweiten Geburtstag: Kinder profitieren besonders von sichtbarem Vormachen. Eltern und Erzieher sollten Handlungen klar zeigen und wiederholen. Deutliche Gesten helfen, Inhalte im Gedächtnis zu verankern.
  • Nach dem zweiten Geburtstag: Kinder verarbeiten zunehmend eigene Erfahrungen. Jetzt sind eigenes Ausprobieren und selbstständige Handlungen entscheidend für das Lernen.

So lässt sich das Wissen über die Entwicklung des Gedächtnisses gezielt in Alltagssituationen einsetzen – beim Spielen, beim Erlernen neuer Wörter oder bei Ritualen im Tagesablauf.

Kurz zusammengefasst:

  • Das Gedächtnis von Babys speichert in den ersten Lebensmonaten vor allem Informationen über andere, weil sie durch Beobachtung lernen.
  • Mit der Selbsterkennung im Spiegel ab etwa 18 Monaten verschiebt sich das Gedächtnis: Eigene Erfahrungen werden wichtiger.
  • Für Eltern bedeutet das: Vor dem zweiten Geburtstag sind Vormachen und gemeinsames Handeln entscheidend, später das eigene Ausprobieren.

Übrigens: Hitze und schlechte Luft können nicht nur den Körper von Schwangeren belasten, sondern sogar den Geburtstermin nach hinten verschieben. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Unsplash

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