36 Merkmale entscheiden, wie unser Gehirn Materialien ordnet

Eine neue Studie zeigt: Unser Gehirn arbeitet mit einem geheimen Code, um Materialien zu unterscheiden – und der ist viel simpler als gedacht.

Materialien haben vielfältige Erscheinungsbilder. Unser Verständnis von ihnen beruht jedoch lediglich auf 36 Dimensionen – wie zum Beispiel Körnigkeit, Bläue oder Viskosität. © Justus-Liebig-Universität Gießen (KI-generiert)

Materialien haben vielfältige Erscheinungsbilder. Unser Verständnis von ihnen beruht jedoch lediglich auf 36 Dimensionen – wie zum Beispiel Körnigkeit, Bläue oder Viskosität. © Justus-Liebig-Universität Gießen (KI-generiert)

Ob feine Seide, schleimige Algen oder zäher Honig – jeden Tag kommen wir mit unterschiedlichsten Materialien in Kontakt. Doch wie nehmen wir diese wahr? Wissenschaftler der Justus-Liebig-Universität Gießen haben in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sowie dem National Institute of Mental Health in den USA herausgefunden, dass unsere Wahrnehmung von Materialien auf lediglich 36 Dimensionen basiert. Diese umfassen Eigenschaften wie Körnigkeit, Bläue oder Viskosität. Obwohl Materialien eine enorme Vielfalt aufweisen, lassen sie sich auf wenige grundlegende Wahrnehmungskriterien reduzieren, die unser Gehirn nutzt, um sie einzuordnen.

Der umfassendste Materialdatensatz

Um zu verstehen, wie Menschen Materialien wahrnehmen, mussten die Forscher zunächst klären, welche Materialien es überhaupt gibt. Dafür erstellten sie einen Bilderdatensatz mit 200 Materialkategorien, die sie aus der englischen Sprache ableiteten.

„Es ist der umfassendste Datensatz seiner Art“, erklärt Dr. Filipp Schmidt von der Justus-Liebig-Universität Gießen. „Wir sind jedes einzelne Substantiv in der englischen Sprache durchgegangen, um diese 200 Kategorien auszuwählen.“ Diese akribische Vorgehensweise sollte sicherstellen, dass sämtliche relevanten Materialtypen in die Studie einbezogen wurden.

Mit diesem Datensatz starteten die Forscher eine groß angelegte Online-Studie, an der tausende Freiwillige teilnahmen. Die Teilnehmer bekamen jeweils drei Bilder zu sehen und mussten angeben, welche beiden sich am ähnlichsten sind. Diese subjektiven Vergleichsurteile bildeten die Grundlage für eine computergestützte Analyse, die die psychologischen Dimensionen der Materialwahrnehmung entschlüsselte.

Wie unser Gehirn Materialien sortiert

Ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie ist, dass nicht alle 36 Dimensionen für jedes Material gleichermaßen relevant sind. Manche Eigenschaften sind nur für spezifische Materialtypen bedeutsam, während sie für andere keine Rolle spielen. Prof. Dr. Martin Hebart von der Justus-Liebig-Universität Gießen erläutert: „Wir nehmen an, dass die meisten Dimensionen für die meisten Materialien unwichtig sind. So ist Viskosität vermutlich nur für einige wenige Flüssigkeiten wie Sirup oder Zahnpasta von Bedeutung. Für die meisten anderen Materialien wie Holz oder Kunststoff ist sie weitgehend irrelevant, sodass der Algorithmus diesen Materialien einen Wert von Null zuweist.“

Diese Erkenntnis bedeutet, dass das Gehirn Materialien nicht nach festen Kategorien ordnet, sondern vielmehr anhand bestimmter Eigenschaften klassifiziert, die in unterschiedlicher Gewichtung auftreten können.

Prof. Roland Fleming, Ph.D., Wahrnehmungsforscher an der Justus-Liebig-Universität Gießen, beschreibt die 36 Dimensionen folgendermaßen: „Diese Dimensionen sind wie Koordinaten in einem mehrdimensionalen ‚mentalen Raum‘, der der Art und Weise entspricht, wie unser Verstand Materialien ordnet und vergleicht.“

Dieses Konzept legt nahe, dass unser Gehirn Materialien nicht nur anhand einzelner Merkmale speichert, sondern sie vielmehr als Kombination verschiedener sensorischer Eindrücke abspeichert.

Die Bedeutung der 36 Dimensionen

Um herauszufinden, wie Menschen die psychologischen Dimensionen interpretieren, führten die Wissenschaftler ein weiteres Experiment durch. Sie baten eine zweite Gruppe von Versuchspersonen, die Dimensionen in eigenen Worten zu beschreiben. Überraschenderweise stimmten die Begriffe der Teilnehmer größtenteils überein.

Dr. Alexandra Schmid vom National Institute of Mental Health erklärt: „Dies zeigt, dass die Dimensionen wirklich aussagekräftig sind. Sie lassen sich eindeutig interpretieren.“

Dies bestätigt, dass Menschen unabhängig voneinander ähnliche Wahrnehmungsmuster haben und sich auf gemeinsame Merkmale von Materialien stützen, wenn sie diese beschreiben. Die Studie könnte damit auch neue Erkenntnisse für die Gestaltung von virtuellen Umgebungen oder künstlichen Intelligenzen liefern, die menschliche Wahrnehmung nachahmen sollen.

Relevanz für die Neurowissenschaften

Die Studie hat nicht nur Auswirkungen auf das Verständnis darüber, wie Menschen Materialien wahrnehmen, sondern auch auf eine zentrale Frage der Neurowissenschaften: Wie bildet das Gehirn Konzepte ab? Bereits bekannt ist, dass verschiedene Hirnareale auf bestimmte Objekte spezialisiert sind – etwa Gesichter oder Buchstaben.

Für Materialien hat man jedoch bislang keine spezifischen Hirnregionen identifiziert. Dr. Filipp Schmidt stellt die Hypothese auf: „Statt spezifischer Kategorien wie Honig, Erde oder Stahl könnte ein weiteres wichtiges Ordnungsprinzip jenes von Merkmalen oder Dimensionen sein, die vielen Dingen gemeinsam sein können. Dies könnten Dimensionen sein wie diejenigen, die wir identifiziert haben.“

Diese Erkenntnis könnte bestehende Annahmen über die Struktur der visuellen Wahrnehmung infrage stellen. Während man bisher davon ausging, dass das Gehirn spezifische Regionen für bestimmte Objektarten nutzt, könnte die Klassifizierung stattdessen auf Eigenschaften basieren, die sich über viele Objekte hinweg erstrecken.

Neurobiologische Forschung zur Materialwahrnehmung

Die Wissenschaftler wollen nun herausfinden, ob sich diese neu beschriebenen Dimensionen in der Gehirnaktivität widerspiegeln. In einer laufenden neurobiologischen Studie setzen sie modernste Gehirnscans ein, um die neuronale Verarbeitung der Materialwahrnehmung zu untersuchen. Die Forscher hoffen, durch diese Untersuchungen tiefergehende Einblicke in die Mechanismen zu gewinnen, die unser Verständnis von Materialien ermöglichen.

Diese Ergebnisse könnten nicht nur die Grundlagenforschung in den Neurowissenschaften beeinflussen, sondern auch Anwendungen in der Künstlichen Intelligenz und Materialwissenschaften revolutionieren. Die Erkenntnisse liefern wertvolle Informationen darüber, wie Menschen Materialien wahrnehmen und verarbeiten – ein Wissen, das in Bereichen wie Industriedesign, Robotik oder virtuellen Simulationen von großer Bedeutung sein könnte.

Kurz zusammengefasst:

  • Menschen nehmen Materialien anhand von 36 psychologischen Dimensionen wahr, darunter Körnigkeit, Bläue und Viskosität – diese Dimensionen helfen, die Vielfalt von Materialien mit wenigen grundlegenden Merkmalen zu erfassen.
  • Wissenschaftler der Justus-Liebig-Universität Gießen haben durch eine großangelegte Studie mit Bildvergleichen und Algorithmen herausgefunden, dass das Gehirn Materialien nicht nach festen Kategorien, sondern anhand dieser Merkmale einordnet.
  • Diese Erkenntnisse könnten nicht nur das Verständnis der visuellen Wahrnehmung revolutionieren, sondern auch praktische Anwendungen in Materialwissenschaften, Künstlicher Intelligenz und Industriedesign ermöglichen.

Bild: © Justus-Liebig-Universität Gießen (KI-generiert)

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