Wie Zahnpasta: Forscher filmen, wie Halbleiter mit flexiblen Bindungen sich verbiegen und schrumpfen

Selen verändert in Nanoröhren seine Struktur: Forscher beobachten, wie Halbleiter mit flexiblen Bindungen sich verformen.

Forscher filmen, wie Halbleiter mit flexiblen Bindungen schrumpfen

Wie Zahnpasta aus der Tube: So beschreiben Forscher den Moment, in dem sich ein Selen-Nanodraht unter Druck verformt – live im Elektronenmikroskop. © Pexels

Wie lässt sich ein einziges Element in unterschiedliche elektronische Bauteile verwandeln? Britische, amerikanische und deutsche Forscher haben gezeigt: Mit Hilfe von Nanoröhren als winzige Behälter lässt sich das Halbleiter-Element Selen in verschiedene Formen bringen – ohne die chemische Zusammensetzung zu verändern. Das entscheidende Stichwort lautet: Halbleiter mit flexiblen Bindungen. Ihre Studie wurde im Fachjournal Advanced Materials veröffentlicht.

Die neuen Selen-Strukturen entstehen in Nanoröhren mit Durchmessern zwischen 0,4 und 3,0 Nanometern – das ist rund 100.000-mal dünner als ein Haar. Je nach Platzverhältnis im Inneren dieser Röhren wächst Selen entweder als gerade Kette, als Spirale oder als dicht gepackte Mehrfachstruktur. Selbst die dünnste beobachtete Selenkette – nur 0,73 Nanometer dick – ließ sich noch stabil darstellen.

Forscher beobachten, wie sich Selen verformt

„Wir zeigen, dass dieses Material eine bemerkenswerte strukturelle Flexibilität besitzt und in einer Vielzahl von Formen existieren kann, von linearen Atomketten über dreifach-helikale Strukturen bis hin zu nanoskaligen Nanodrähten“, sagt Chemiker Will Cull.

Er und sein Team konnten mithilfe hochauflösender Elektronenmikroskopie beobachten, wie sich die winzigen Selenstrukturen unter dem Druck der Nanoröhren verformten. Teilweise sahen sie live, wie ein Nanodraht während der Aufnahme dünner wurde – wie „ausgepresste Zahnpasta“, so Cull.

Halbleiter mit flexiblen Bindungen – Umwandlung in Echtzeit

Die Besonderheit: Die eingesetzten Nanoröhren fungierten nicht nur als Formgeber, sondern auch als eine Art durchsichtiges Reagenzglas. Während herkömmliche Kohlenstoffnanoröhren Strahlung absorbieren, ermöglichen Bor-Nitrid-Nanoröhren den Blick ins Innere. Das erlaubt es den Forschern, elektronische Übergänge direkt zu beobachten – und zu messen.

Entscheidend ist dabei die sogenannte Bandlücke. Sie bestimmt, wie gut ein Halbleiter Strom leiten kann. Für Selen-Nanodrähte mit Durchmessern im Bereich von wenigen Nanometern ergaben sich Bandlücken zwischen 2,2 und 2,5 Elektronenvolt – ein zentraler Wert für Anwendungen in Solarzellen, Transistoren oder lichtempfindlichen Sensoren.

Live-Aufnahme im Nanomaßstab: So wird ein Selen-Nanodraht wie Zahnpasta aus der Röhre gepresst – festgehalten im Elektronenmikroskop. © University of Nottingham
Live-Aufnahme im Nanomaßstab: So wird ein Selen-Nanodraht wie Zahnpasta aus der Röhre gepresst – festgehalten im Elektronenmikroskop. © University of Nottingham

Bandlücke gezielt steuern

„Unsere Bilddaten zeigen einen klaren linearen Zusammenhang zwischen dem inneren Durchmesser der Kohlenstoffnanoröhre und dem Durchmesser des eingeschlossenen Selen-Nanodrahts“, erklärt Cull. Genau diese Beziehung eröffnet neue technische Möglichkeiten: Man kann die elektronischen Eigenschaften von Selen gezielt anpassen – einfach durch Veränderung des Röhrchendurchmessers.

Professor Quentin Ramasse ergänzt: „Die kontrollierte Synthese dieser Strukturen erschließt das volle Potenzial dieses Halbleiters.“ Die Forscher glauben, dass sich damit künftig maßgeschneiderte elektronische Bauteile aus nur einem einzigen Element herstellen lassen.

Halbleiter mit flexiblen Bindungen ermöglichen Mini-Bauteile

Selen ist dabei kein neues Material: Es wurde 1817 entdeckt und spielte eine wichtige Rolle bei den ersten Solarzellen. Jetzt bekommt das alte Halbleiter-Element neues Leben eingehaucht – durch seine flexiblen Bindungen, die sich je nach Umgebung anpassen lassen.

Besonders spannend: Die Struktur von Selen verändert sich stufenweise – von einer linearen Kette über eine schraubenförmige Anordnung bis zu mehreren Strängen nebeneinander. Entscheidend ist jeweils der zur Verfügung stehende Platz im Inneren der Nanoröhre.

Potenzial für Sensoren, Solarzellen und flexible Elektronik

Der Hintergrund ist auch technologisch bedeutsam: Elektronik soll immer kleiner werden. Laut dem bekannten Moore’schen Gesetz verdoppelt sich die Zahl der Transistoren in einem Chip etwa alle zwei Jahre. Die Bauteile schrumpfen also ständig. Umso wichtiger ist es, Materialien zu entwickeln, die auch in atomar kleinen Strukturen noch zuverlässig funktionieren.

Professor Andrei Khlobystov erklärt: „Wir haben untersucht, wie klein ein Nanodraht sein kann, ohne dass seine elektronischen Eigenschaften verloren gehen.“ Entscheidend ist dabei der sogenannte Quanteneinschluss – ein Effekt, der auf atomarer Ebene eine Rolle spielt und durch gezielte Verzerrungen der Struktur ausgeglichen werden kann.

Kurz zusammengefasst:

  • Selen kann sich in Nanoröhren unterschiedlich anordnen, je nach Durchmesser der Röhre – als Kette, Spirale oder in mehreren Strängen.
  • Diese Strukturveränderungen beeinflussen direkt die Bandlücke, also die elektrische Leitfähigkeit – ein zentraler Faktor für elektronische Bauteile.
  • Forscher konnten den Prozess live beobachten und messen. Das eröffnet neue Möglichkeiten für maßgeschneiderte Halbleiter mit flexiblen Bindungen.

Bild: © Pexels

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert