Nahrungsmittelallergien verstehen: Wenn das Immunsystem Essen als Gefahr einstuft
Normalerweise lernt das Immunsystem, Lebensmittel als harmlos einzuordnen. Versagt dieser Mechanismus, drohen lebensbedrohliche Allergien.

Glutenunverträglichkeit, Nahrungsmittelallergien und Reizdarm sind längst Alltagsthemen – doch oft bleibt unklar, was im Körper eigentlich passiert. © Pexels
Wer nach dem Essen plötzlich Ausschlag bekommt, Atemnot spürt oder Krämpfe im Magen hat, erlebt eine Fehlentscheidung des Körpers. Denn das Immunsystem sollte eigentlich wissen, dass Lebensmittel harmlos sind. Warum das jedoch manchmal schiefläuft, hat ein Forschungsteam des Weizmann Institute of Science in einer neuen Studie entschlüsselt. Im Fokus stehen seltene Zellen mit einer besonderen Aufgabe: Sie sorgen dafür, dass der Körper beim Kontakt mit Nahrung ruhig bleibt. Die Ergebnisse könnten Millionen Menschen mit Nahrungsmittelallergien helfen.
Immunsystem wird schon im Mutterleib programmiert
„Es gibt ein spezielles Programm im Immunsystem, das uns davor schützt, auf jedes Eiweiß aus der Nahrung mit Entzündung zu reagieren“, sagt Dr. Ranit Kedmi, Leiterin der Studie. Gerät dieses Programm aus dem Gleichgewicht, können plötzlich harmlose Lebensmittel gefährlich werden.
Die entscheidende Rolle spielt eine Zellart namens RORγt-APC. Diese Zellen senden dem Immunsystem das Signal: Kein Grund zur Panik, das ist nur Essen. Früher hielt man andere Immunzellen, sogenannte dendritische Zellen, für verantwortlich. Doch neue Experimente an Mäusen zeigten: Ohne RORγt-Zellen entwickelte sich keine Toleranz, die Tiere reagierten allergisch auf normale Nahrung.
Der Körper lernt von Beginn an, Nahrung zu tolerieren – schon im Mutterleib und später durch Stillen und erste feste Kost. Auch gesunde Darmbakterien helfen dabei. Doch es braucht offenbar genau diese RORγt-Zellen, um die richtige Reaktion des Immunsystems dauerhaft zu sichern.
Normalerweise verhindert das Immunsystem Überreaktionen
Das Team um Kedmi identifizierte vier Zelltypen, die in einem Netzwerk zusammenarbeiten. Eine Zelle startet das Signal, zwei weitere leiten es weiter, die vierte wird am Ende gestoppt: die CD8-Zelle. Sie gilt als eine der aggressivsten Waffen des Immunsystems – zuständig für Angriffe auf Viren und Bakterien. Beim Essen ist ihr Einsatz jedoch fehl am Platz.

Fehlt dieser kontrollierende Mechanismus, wird das Immunsystem unberechenbar. „Die Zellen geraten außer Kontrolle und bekämpfen das, was sie eigentlich ignorieren sollten“, sagt Kedmi. Genau das passiert zum Beispiel bei Zöliakie, wenn das Immunsystem auf Gluten in Weizen reagiert.
Schutzreaktion lässt sich vorübergehend abschalten
Was aber, wenn ein gefährlicher Keim ein Protein besitzt, das dem eines Lebensmittels gleicht? Würde das Immunsystem dann nicht zu spät reagieren? Auch das testeten die Forscher. Sie infizierten Mäuse mit einem Keim, der ein „Lebensmittel-Eiweiß“ enthielt.
Das Immunsystem funktioniert wie ein Staat mit Friedensabkommen. Wird es angegriffen, reagiert es sofort, auch wenn sonst alles ruhig ist.
Dr. Ranit Kedmi
Das Ergebnis: Das Immunsystem unterbrach die Toleranz, griff den Erreger an und schaltete danach zurück in den Normalmodus. Erst wenn die Gefahr vorbei ist, wird die friedliche Einstellung wiederhergestellt.
Fehler im System können Allergien auslösen
Diese Flexibilität ist entscheidend, sie erlaubt einerseits sicheres Essen, andererseits eine effektive Abwehr bei echten Infektionen. Doch wenn einzelne Teile des Netzwerks ausfallen, kann es zu Allergien, Unverträglichkeiten oder chronischen Entzündungen kommen, wie beim Beispiel Zöliakie, bei denen das System dauerhaft falsch programmiert ist.

Die neuen Erkenntnisse bieten laut Kedmi einen Ansatz, solche Störungen besser zu verstehen. Wenn man weiß, wo die Toleranzkette abreißt, kann man laut der Wissenschaftlerin gezielter behandeln oder vielleicht sogar vorbeugen.
Immunantwort neu steuern und Millionen tödliche Essensallergien behandeln
Betroffenen bieten diese Erkenntnisse neue Hoffnung. Denn heute bleibt vielen Menschen mit Lebensmittelallergien nur der Verzicht. Allein in den USA leben laut offiziellen Schätzungen über 33 Millionen Menschen mit teils lebensbedrohlichen Nahrungsmittelreaktionen. Jede zehnte Minute landet dort jemand wegen einer Allergie in der Notaufnahme.
„Wenn wir verstehen, wie die Toleranz entsteht und wo sie versagt, können wir gezielt eingreifen“, sagt Kedmi. Denkbar wäre zum Beispiel, fehlende Toleranz-Zellen zu aktivieren oder bestimmte Immunantworten gezielt zu bremsen. Noch ist das Zukunftsmusik, aber mit konkretem Versprechen.
Kurz zusammengefasst:
- Das Immunsystem entwickelt früh eine Toleranz gegenüber Essen: Spezielle RORγt-Zellen verhindern dabei gefährliche Abwehrreaktionen auf Lebensmittel.
- Ein neu entdecktes Zellnetzwerk steuert diesen Prozess und kann bei Störungen zu Allergien, Unverträglichkeiten oder Zöliakie führen.
- Bei Infektionen setzt das Immunsystem die Toleranz kurzzeitig aus, um Erreger gezielt zu bekämpfen, bevor es wieder in den Normalzustand zurückkehrt.
Übrigens: Auch die Auswahl der Lebensmittel beeinflusst das Immunsystem – nachhaltige Ernährung senkt laut Regensburger Studie das Krebsrisiko. Mehr dazu im Artikel.
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