Inflammaging: Warum Haare altern, lange bevor sie grau werden

Haare altern schleichend. Zellforschung zeigt, dass graue Haare und Haarausfall auf frühe Prozesse im Haarfollikel zurückgehen.

Frau beim Frisör

Die Alterung der Haare beginnt tief im Haarfollikel, wo frühe Störungen von Zellsignalen Farbe und Wachstum beeinflussen. © Unsplash

Graue Haare und dünner werdendes Haar gelten als sichtbare Zeichen des Älterwerdens. Erst einzelne graue Strähnen, später weniger Fülle. Viele ordnen das in eine späte Lebensphase ein. Doch Haare altern nicht erst dann, wenn sich Farbe oder Dichte verändern. Der entscheidende Prozess setzt deutlich früher ein – lange bevor erste Veränderungen im Spiegel auffallen.

Im Alltag bleibt das verborgen. Das Haar wächst, wird geschnitten, gefärbt, gepflegt. Was unter der Kopfhaut passiert, bleibt unsichtbar. Gleichzeitig investieren Menschen jedes Jahr enorme Summen in Produkte, die neues Wachstum oder mehr Farbe versprechen. Der Erfolg bleibt oft begrenzt. Der Grund liegt tiefer als Shampoo oder Serum reichen.

Erst eine aufwendige Zellanalyse zeigt nun, was im Haarfollikel lange vor dem ersten grauen Haar aus dem Gleichgewicht gerät. Ein internationales Forschungsteam hat den Alterungsprozess der menschlichen Kopfhaut erstmals systematisch kartiert. 

Haare altern, weil die innere Abstimmung nachlässt

Ein Haar wächst nicht zufällig. Im Haarfollikel arbeiten mehrere Zelltypen zusammen. Stammzellen liefern ständig neues Material. Pigmentzellen sorgen für Farbe. Andere Zellen stabilisieren Struktur und Verankerung. Solange diese Abstimmung funktioniert, bleibt das Haar kräftig und farbig.

Genau diese Koordination lässt früh nach. Die Wissenschaftler analysierten mehr als 57.000 einzelne Zellen aus menschlicher Kopfhaut. Die Proben stammten von Personen zwischen 20 und knapp 60 Jahren. Bereits bei Menschen mittleren Alters zeigte sich ein klarer Trend. Wichtige Zellgruppen im Haarfollikel wurden seltener. Andere verloren an Aktivität.

Besonders betroffen waren Zellen der äußeren Wurzelscheide und der sogenannten Bulge-Region. Diese Bereiche gelten als Schaltstellen für das Nachwachsen der Haare. Wenn dort weniger aktive Vorläuferzellen vorhanden sind, verlangsamt sich das Wachstum spürbar.

Wenn Signale nicht mehr ankommen

Neben der Zellzahl veränderte sich auch der Informationsaustausch. Haarfollikel sind auf Signale angewiesen, die Wachstum und Ruhephasen steuern. Dazu gehören unter anderem BMP- und WNT-Botenstoffe. Sie geben den Takt vor.

In den untersuchten Proben mittelalter Personen waren diese Signale deutlich abgeschwächt. Besonders der Austausch zwischen den dermalen Papillenzellen, den zentralen Steuerzellen des Haarwachstums, und den umgebenden Keratinozyten brach ein. Ohne diese Impulse verliert der Haarfollikel seine innere Ordnung. Wachstumsphasen verkürzen sich. Ruhephasen dauern länger. Das Haar wird feiner.

Graue Haare entstehen durch Fehlsteuerung

Auch die Entstehung grauer Haare lässt sich so erklären. Lange galt der einfache Verlust von Pigmentzellen als Hauptursache. Die neuen Daten sprechen für einen komplexeren Mechanismus. In Pigmentzellen zeigte sich eine erhöhte Aktivität des Gens DCT. Dieses Gen steuert die Melaninbildung.

Statt eines schlichten Abbaus deutet vieles auf eine Übersteuerung hin. Damit ist keine gesteigerte Farbproduktion gemeint, sondern eine chronisch fehlregulierte, entzündungsgetriebene Daueraktivierung der Pigmentbildung, die das System nicht stabilisiert, sondern aus dem Gleichgewicht bringt. Die Forscher bringen das mit chronischen Entzündungsprozessen in Verbindung, die mit dem Alter zunehmen.

Diese Form der dauerhaften, niedriggradigen Entzündung wird als Inflammaging (zusammengesetzt aus Inflammation = Entzündung und Aging = Altern) bezeichnet. Sie hält die Fehlsteuerung der Pigmentzellen aufrecht. Graue Haare entstehen so nicht plötzlich, sondern als Folge einer langfristigen Störung im Gewebe.

Dauerstress schwächt die Regeneration

Ein weiterer Befund betrifft den Umgang der Zellen mit Stress. In den Haarfollikeln Personen mittleren Alters war der Transkriptionsfaktor-Komplex AP-1 deutlich aktiver. Er reagiert auf Entzündung und Belastung. Diese Aktivierung setzt mehrere Prozesse in Gang:

  • Entzündungsreaktionen nehmen zu
  • Stammzellen werden schneller verbraucht
  • Reparaturmechanismen geraten unter Druck

Kurzfristig hilft diese Reaktion, Stress zu bewältigen. Langfristig kostet sie Regenerationskraft.

Frühe Schäden bleiben lange unsichtbar

Die Ergebnisse erklären, warum viele Produkte gegen Haarausfall enttäuschen. Sie wirken an der Oberfläche. Der eigentliche Alterungsprozess spielt sich jedoch tief im Haarfollikel ab. Dort verändern sich Zellzahlen, Signalwege und Entzündungsmuster lange vor den ersten sichtbaren Anzeichen.

Deshalb bleiben frühe Veränderungen meist unbemerkt. Haare altern langsam und leise. Wenn graue Haare oder lichteres Haar auffallen, sind zentrale Steuermechanismen bereits geschwächt.

Die Wissenschaftler sehen dennoch Ansatzpunkte für künftige Therapien. Sie nennen gezielt die gestörte Zellkommunikation und die überaktive Stressantwort als mögliche Ziele. Noch handelt es sich um Grundlagenforschung. Klar ist jedoch: Graue Haare und Haarausfall haben denselben biologischen Ursprung.

Kurz zusammengefasst:

  • Haare altern früher als gedacht, weil im Haarfollikel die Abstimmung zwischen Stammzellen, Pigmentzellen und Stützzellen bereits im mittleren Lebensalter gestört ist.
  • Graue Haare und Haarausfall haben dieselbe Ursache: Zellstress, Entzündung und eine geschwächte Kommunikation verhindern Wachstum, Regeneration und stabile Pigmentbildung.
  • Viele Behandlungen greifen zu kurz, weil die entscheidenden Veränderungen tief im Haarfollikel beginnen und lange vor sichtbaren Symptomen ablaufen.

Übrigens: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Haare durch eine innere Zugkraft wachsen – und nicht durch Druck von unten, wie lange vermutet. Welche Folgen das für viele gängige Mittel gegen Haarausfall hat, mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Unsplash

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