Wer ständig scrollt, verliert das Vertrauen: Wie digitale Medien das Fundament der Demokratie untergraben
Soziale Netzwerke polarisieren. Digitale Medien gefährden zunehmend das Vertrauen und die Stabilität in der Demokratie.

Zwischen Dialog und Desinformation: Digitale Medien formen die Demokratie – je nach Land sehr unterschiedlich. © MPI für Bildungsforschung
Was passiert mit unserer Demokratie, wenn politische Debatten zunehmend auf TikTok, Facebook oder Telegram stattfinden? Wenn Proteste auf X organisiert werden – und sich Desinformation über YouTube, Gruppen-Chats und Kommentarspalten ausbreitet? Digitale Medien sind heute ein fester Bestandteil politischer Meinungsbildung. Für viele Menschen sind sie zur wichtigsten Informationsquelle geworden – schnell, direkt, allgegenwärtig. Doch welche Folgen hat das für das Vertrauen in Staat und Gesellschaft? Und was bedeutet es für die Stabilität politischer Systeme? Ein internationales Forschungsteam hat nun 496 Studien ausgewertet und kommt zu einer deutlichen Einschätzung: Digitale Medien verändern die Demokratie tiefgreifend. Sie schaffen neue Möglichkeiten der Beteiligung – aber sie verstärken auch Polarisierung, schwächen das Vertrauen in Institutionen und treiben politische Extreme an.
Forscher der Tongji University, der University of Cambridge und der Duke University haben frühere Ergebnisse einer Studie von 2022 zur Verbindung zwischen digitalen Medien und Demokratie bestätigt. Mit aktualisierten Daten bis März 2024 konnten sie zeigen: Die Wirkung sozialer Plattformen hängt stark vom politischen Umfeld ab. In autoritären Staaten fördern sie Meinungsfreiheit. In stabilen Demokratien gefährden sie oft genau das, was sie eigentlich stärken sollen.
Digitale Medien untergraben Vertrauen und treiben die Demokratie in politische Extreme
Wer viel Zeit auf Social Media verbringt, vertraut seltener Gerichten, Parlamenten oder staatlichen Behörden. Die Datenlage ist deutlich: In westlichen Demokratien sinkt mit steigender Mediennutzung das Vertrauen in demokratische Institutionen. Besonders dann, wenn politische Inhalte über Plattformen konsumiert werden.
Gleichzeitig zeigt sich ein zweiter Effekt. Digitale Medien verstärken Unterschiede – nicht nur in Meinungen, sondern im Ton, der immer rauer wird. Algorithmen bevorzugen Zuspitzung. Wer wütend klickt, bleibt länger. So entsteht ein Sog hin zu extremen Positionen. Die politische Mitte wird leiser, die Ränder lauter.
Für viele hat das konkrete Folgen. Die eigene Timeline wirkt politischer, radikaler, aufgeladen – obwohl das persönliche Umfeld vielleicht differenzierter denkt. Es entsteht der Eindruck: Alle sind wütend, niemand hört zu.
Mehr Beteiligung durch niedrigere Hürden
Trotzdem sind die sozialen Medien nicht nur Gefahr, sondern auch Chance. Wer sich bisher aus politischen Debatten ausgeschlossen fühlte, kann auf Facebook, Instagram oder TikTok einen neuen Zugang finden – niedrigschwellig, schnell und oft wirksam.
Bewegungen wie Fridays for Future, #MeToo oder der Arabische Frühling wären ohne die sozialen Plattformen kaum denkbar gewesen. Millionen Menschen haben sich darüber informiert, organisiert und vernetzt – oft innerhalb weniger Stunden, unabhängig von klassischen Medien.
Auch bei Wahlen wirken digitale Medien aktivierend. Viele Nutzer werden dort politisch erreicht, wo sie sich ohnehin bewegen – im Feed.
Politisches Wissen nimmt oft zu
In zahlreichen Studien zeigt sich: Wer digitale Medien regelmäßig nutzt, ist oft politisch besser informiert. Die Vielfalt der Quellen, die direkte Ansprache und die Aktualität der Inhalte machen es leicht, sich auf dem Laufenden zu halten. Vorausgesetzt, man klickt über die Schlagzeile hinaus.
Besonders positiv wirkt sich das in Schwellenländern und autoritären Staaten aus. Wo klassische Medien kontrolliert werden, bieten digitale Plattformen Zugang zu alternativen Informationen. Das kann den Demokratisierungsprozess stützen – zumindest dort, wo Netzsperren und Zensur nicht alles blockieren.
Desinformation und Hass treiben neue Dynamiken an
Was als öffentlicher Debattenraum beginnt, kann sich schnell in eine Radikalisierungsspirale verwandeln. Den Wissenschaftlern zufolge verbreiten sich Hasskommentare, Verschwörungstheorien und populistische Botschaften besonders schnell. Gerade in Krisenzeiten wird die Informationslage unübersichtlich – gezielte Falschinformationen finden dann leichter Gehör.
Ein Beispiel dafür ist der Angriff auf das US-Kapitol im Januar 2021. Viele der Beteiligten hatten sich zuvor auf Plattformen radikalisiert. Inhalte mit stark emotionalem Gehalt werden häufiger geteilt – oft unabhängig vom Wahrheitsgehalt.
Kaum Forschung zu Afrika und Asien
Ein großer Teil der ausgewerteten Studien stammt aus den USA und Europa. Afrika, Südamerika oder Südostasien sind in der Forschung deutlich unterrepräsentiert. Dabei wären gerade diese Regionen wichtig, um globale Entwicklungen zu verstehen.
Das Forschungsteam fordert deshalb mehr internationale Vergleichsstudien. Denn die politischen Effekte digitaler Medien unterscheiden sich je nach Kontext, Regierungssystem und Regulierung. Eine globale Analyse braucht globale Daten – und die fehlen bislang.
Kurz zusammengefasst:
- Digitale Medien fördern politische Beteiligung und Informationszugang, besonders in autoritären Staaten, wo sie Proteste und Demokratisierungsprozesse ermöglichen.
- In westlichen Demokratien verstärken sie Misstrauen, Polarisierung und die Verbreitung von Desinformation, was Institutionen schwächt und extreme Positionen stärkt.
- Weitere Forschung ist nötig, um einen globales Gesamtbild zu zeichnen und die weltweite Entwicklung nachvollziehen zu können.
Übrigens: Nicht nur digitale Medien setzen die Demokratie unter Druck. Auch der Klimawandel wird zur realen Gefahr für faire Wahlen – etwa durch Fluten, Hitze oder zerstörte Wahlinfrastruktur. Wie Extremwetter weltweit Wahlprozesse lahmlegt und welche Lösungen es gibt – mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © MPI für Bildungsforschung