Frei von Schönheitsidealen: Warum sich immer mehr Frauen dem Druck entziehen
Schönheitsideale prägen Generationen. Doch immer mehr junge Frauen befreien sich zunehmend vom gesellschaftlichen Druck und hinterfragen Schönheitsnormen.
Sabine Rückert erzählt in ihrer Kolumne im ZEIT Magazin von einer tiefgreifenden Veränderung, wie sie Schönheitsideale wahrnimmt. Dabei beschreibt sie, wie der gesellschaftliche Druck, einem bestimmten äußeren Ideal zu entsprechen, ihr Leben lange Zeit geprägt hat – und wie sie heute, inspiriert von ihrer Tochter und Patentochter, diesen Druck zunehmend loslässt.
Ihre Tochter, so erklärt Rückert, verweigert sich dem typischen Schönheitsstress, der viele Frauen begleitet. Sie schminkt sich nicht und weigert sich, regelmäßig auf die Waage zu steigen. Für sie sei das alles unnötiger Ballast: „Das eine kostet zu viel Zeit, das andere macht schlechte Laune“, zitiert Rückert sie. Auch ihre Patentochter, die vor einigen Jahren ihre Kontaktlinsen gegen eine Brille eintauschte, verzichte mittlerweile völlig auf Make-up. Beide Frauen gehören zu einer jüngeren Generation, die sich dem Druck entzieht, einem künstlichen Idealbild zu folgen. Rückert selbst sagt zum Thema Schminken:
Schminke ist für mich nach wie vor eine Art Rüstung, die ich anlege, bevor ich mich ins Getümmel stürze. So wie Männer ihren Dreiteiler anziehen und die Krawatte um den Hals legen, um sich dem Geschäftstag auszusetzen, so ziehe ich Lidstriche und toupiere die Frisur.
Sabine Rückert
Rückert beobachtet, wie glücklich ihre Tochter und Patentochter sind, weil sie sich von diesen Normen befreien konnten. Sie schätzt es, dass ihre Gespräche nicht mehr von Äußerlichkeiten dominiert werden, sondern sich um berufliche Themen und Zukunftspläne drehen.
Vergleich mit der eigenen Jugend
Im Gegensatz dazu blickt Rückert auf ihre eigene Jugend in den 1960er und 1970er Jahren zurück, die stark von den damaligen Schönheitsidealen beeinflusst war. Sie nennt das Supermodel Twiggy als Symbol dieser Zeit, deren extrem schlanke Figur das Schönheitsbild prägte. „Twiggy hieß ‚dürres Zweiglein‘ und so sah sie auch aus“, erinnert sie sich. Mit einem angeblichen Hüftumfang von 55 Zentimetern und einem Gewicht von nur 40 Kilogramm verkörperte Twiggy das Ideal einer Zeit, in der Frauen sich oft bis zur Selbstaufgabe an dieses Bild anpassten. Rückert selbst beschreibt, wie sie sich bemühte, diesem Ideal zu entsprechen. „Ich wollte auch gertenschlank sein“, schreibt sie und schildert, dass sie zeitweise sogar erfolgreich war – jedoch nur auf Kosten ihrer Gesundheit und Lebensfreude. Sie erinnert sich daran, wie viel Zeit sie damit verbrachte, in Schaufenstern ihr Spiegelbild zu begutachten und trotzdem unzufrieden zu sein.
In dieser Zeit war es normal, sich ständig mit dem eigenen Äußeren zu beschäftigen. Rückert erzählt, wie sie hungerte, rauchte und Kaugummi kaute, um ihr Gewicht zu halten. Gleichzeitig beschäftigte sie sich stundenlang mit ihrer Frisur und ihrem Make-up. „Das alles hat viel Lebenszeit gefressen“, gibt sie rückblickend zu und beschreibt, dass dieser äußere Druck sie nicht glücklicher gemacht habe. Besonders deutlich wird ihre damalige Fixierung auf Schönheitsideale durch die Werbung jener Zeit: „Ich will so bleiben wie ich bin – du darfst“, zitiert sie einen bekannten Werbeslogan für kalorienreduzierte Margarine, der vielen jungen Frauen ins Ohr gesungen wurde.
Der äußere Druck bleibt bestehen
Rückert reflektiert jedoch, dass auch heute viele Frauen dem Druck der Schönheitsideale ausgesetzt sind – wenn auch in anderer Form. Sie beschreibt die Zeit ihrer Kindheit, in der Frauen oft als reine Trophäen angesehen wurden und ihr Selbstwertgefühl davon abhing, wie sie von Männern betrachtet wurden. „Gedanken und Redebeiträge von Frauen interessierten kaum einen“, kommentiert sie. Dieser gesellschaftliche Druck, perfekt auszusehen, habe viele Frauen dazu gebracht, sich durch äußere Veränderungen anzupassen – von falschen Wimpern bis hin zu lackierten Fingernägeln, die oft als unerlässliches Mittel galten, um einen wohlhabenden Mann zu „fangen“.
Rückert beschreibt, wie diese Erwartungen an Frauen besonders in den 1960er Jahren spürbar waren. Viele Frauen seien damals in gesellschaftlichen Strukturen gefangen gewesen, die ihnen wenig Raum für Selbstbestimmung ließen. Es galt als oberste Priorität, zu heiraten und eine perfekte Hausfrau zu sein, und Äußerlichkeiten spielten dabei eine zentrale Rolle. Wer nicht dem Ideal entsprach, wurde gesellschaftlich ausgegrenzt und galt als „schwierig“. „Frauen konnten sich entweder unterordnen oder einsam leben“, fasst sie das damalige Dilemma zusammen.
Schönheitsoperationen im 21. Jahrhundert
Doch obwohl sich die gesellschaftliche Stellung der Frauen im Laufe der Jahrzehnte deutlich verbessert hat, ist Rückert skeptisch, ob der Druck, schön zu sein, tatsächlich nachgelassen hat. Sie kritisiert die heutigen Schönheitsoperationen, die immer mehr Frauen durchführen lassen, um einem bestimmten Idealbild zu entsprechen. Allein in Deutschland gab es im Jahr 2022 fast eine halbe Million solcher Eingriffe, vor allem an Frauen. Damit rangiere das Land auf Platz drei hinter Brasilien und den USA, die mit Millionen Operationen die Spitzenplätze belegen.
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Rückert fragt sich, warum so viele Frauen bereit sind, sich solchen schmerzhaften und teils gefährlichen Eingriffen zu unterziehen. „Warum lassen sich Frauen die Brüste in blutigen Operationen vergrößern, manche sogar mehrfach?“, fragt sie. Der gesellschaftliche Druck sei heute, trotz aller Freiheiten, nicht verschwunden. Sie zieht einen Vergleich zu historischen Schönheitsidealen wie den Lotusfüßen im alten China, bei denen kleinen Mädchen die Füße gebrochen wurden, um sie zu deformieren. „Ist der Lotusfuß wirklich so weit weg von den unendlichen Schmerzen und Leiden eines Brazilian Butt Lift?“, fragt sie provokant.
Die persönliche Befreiung
Doch wie geht Rückert selbst mit dem Thema Schönheitsideale um? Obwohl sie zugibt, noch immer eitel zu sein und sich über Komplimente zu freuen, hat sie den Zwang, ständig gut auszusehen, hinter sich gelassen. „Ich merke, dass der Aufwand für die Verschönerung steigt, während der Erfolg abnimmt“, schreibt sie und erkennt, dass die Jahre sie von vielen Dingen befreit haben – insbesondere von dem Bedürfnis, anderen gefallen zu müssen. Sie drückt ihre Bewunderung für ihre Tochter und Patentochter aus, die sich diesen Zwängen gar nicht erst unterwerfen.
Rückert gibt sich optimistisch, indem sie betont, dass sie sich heute selbst gefalle – unabhängig von den Erwartungen anderer. Die gesellschaftlichen Schönheitsideale, die sie einst stark beeinflussten, spielen für sie keine Rolle mehr. „Ich gefalle mir“, lautet ihr Fazit.
Was du dir merken solltest:
- Schönheitsideale haben sich über die Jahrzehnte stark verändert, doch der Druck auf Frauen, einem bestimmten Bild zu entsprechen, bleibt bestehen.
- Jüngere Generationen von Frauen lehnen zunehmend diesen Schönheitsstress ab und setzen auf Natürlichkeit und Selbstakzeptanz.
- Trotz mehr Freiheiten entscheiden sich viele Frauen weiterhin für Schönheitsoperationen, was zeigt, dass der gesellschaftliche Druck auf äußere Perfektion nach wie vor präsent ist.
Übrigens: Ähnlich wie bei Menschen machen vermeintliche Makel auch Dinge oft interessanter als scheinbare Perfektion. Das besagt das japanische Konzept des „Wabi Sabi“, das die Vergänglichkeit ebenfalls schätzt. Bei Gebäuden kann man dieses Prinzip auch anwenden. In unserem Artikel geht es darum, warum Neubauten kein Wohlbefinden auslösen.
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