Gefühle auf Bestellung? Wie Empathie unsere Gesellschaft spaltet

Empathie wird zunehmend als Marketingstrategie eingesetzt, indem sie Unternehmen zur Kundenbindung dient. Sie spiegelt aber auch die gesellschaftliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit wider.

Empathie als Verkaufsschlager. Oder ist sie eher ein Ausdruck der Gesellschaft nach der Sehnsucht des Zusammengehörigkeitsgefühls? © Pexels

Empathie als Verkaufsschlager. Oder ist sie eher ein Ausdruck der Gesellschaft nach der Sehnsucht des Zusammengehörigkeitsgefühls? © Pexels

In der heutigen Zeit scheint Empathie mehr als nur eine menschliche Fähigkeit zu sein. Sie wird als Superkraft, Führungsqualifikation und sogar als Marketingstrategie betrachtet. So beschreibt es jedenfalls Katja Scholtz in ihrem Gastbeitrag für die FAZ. Empathie werde längst nicht mehr nur als zwischenmenschliches Einfühlen verstanden, sondern entwickle sich zur Haltung in der Gesellschaft, die im Alltag omnipräsent ist – ob in sozialen Medien, in der Werbung oder sogar in der Führungswelt. Dabei steht oft die Frage im Raum, ob dieses Mitfühlen wirklich ehrlich gemeint ist oder nur dem Zweck dient, Reichweite und Sympathien zu gewinnen.

Ein Beispiel für diesen Trend zeigt eine kürzliche Szene im Weltspiegel, als Moderator Andreas Chichowicz nach bedrückenden Nachrichten für auflockernde Momente sorgte und dabei sagte: „Ich fühl Sie!“ Die Formulierung, bekannt aus sozialen Netzwerken und vor allem unter Jüngeren, wirkte in der förmlichen „Sie“-Anrede und im traditionellen Fernsehkontext überraschend. Für viele Menschen stellt „Ich fühl dich“ bzw. „I feel you“ die Möglichkeit dar, ein Gefühl zu teilen und Verständnis zu signalisieren – eine Art Bestätigung für Alltagsprobleme und größere Sorgen, die viele teilen.

Empathie als neue Grammatik des sozialen Miteinanders

Das Bedürfnis, öffentlich Mitgefühl zu zeigen, ist laut Scholtz inzwischen weit verbreitet. Dabei gehe es ihrer Meinung nach nicht nur um echtes Einfühlungsvermögen, sondern oft auch um das Erzeugen einer wohligen Harmonie, sei es in persönlichen Gesprächen oder in den Kommentarspalten der sozialen Medien. Die Autorin fragt sich, wie diese „Grammatik des Fühlens“ zu einer immer gespalteneren Gesellschaft passt, in der Hassrede zunimmt und extreme Meinungen oft unversöhnlich aufeinandertreffen. Sie weist darauf hin, dass Empathie als soziale Währung im digitalen Raum eine zweischneidige Wirkung haben könne: Sie sei für einige ein authentischer Ausdruck von Verständnis, für andere jedoch eher ein Instrument zur Selbstvermarktung.

Wenn Mitgefühl zum Marketinginstrument wird

Die Wirtschaft hat den Wert von Empathie längst erkannt, vor allem in Form des sogenannten „empathetic marketing“. In den USA würden Führungskräfte in Empathieseminaren geschult, um Kunden besser zu verstehen und so den Umsatz zu steigern. Scholtz beschreibt diese Entwicklung als fragwürdig, da in diesem Kontext Empathie nicht mehr nur der Menschlichkeit diene, sondern einem kapitalistischen Zweck. Der Versuch, Empathie als Verkaufsstrategie einzusetzen, kann das Mitfühlen pervertieren, da es lediglich darauf abzielt, Nähe und Zugehörigkeit zu suggerieren.

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Ein Beispiel liefert die Verlagsgruppe Bastei Lübbe, die mit dem neuen Imprint „Pola“ eine Marke kreiert hat, die Identifikation und Mitgefühl fördern soll. Der dazugehörige Slogan „Fühl ich“ soll besonders Frauen ansprechen und signalisiert eine Freundschaft zwischen Buch und Leserin. Scholtz betont, dass diese Strategie zwar kein grundlegend negatives Bild zeigt, aber eine gesellschaftliche Sehnsucht nach Identifikation widerspiegelt. In der modernen Welt suchen Menschen nach Orten und Dingen, die „relatable“ sind – greifbar und verständnisvoll.

Woher das Bedürfnis nach Bestätigung kommt

Der Ausdruck „Ich fühl dich“ stammt vermutlich aus der Hip-Hop-Kultur und fand von dort aus seinen Weg in den Sprachgebrauch. In sozialen Netzwerken wird er verwendet, um Zustimmung und Verständnis zu signalisieren. Der feine Unterschied zwischen „I feel you“ und „I feel for you“, also zwischen Mitgefühl und Mitfreude, scheint vielen jedoch oft nicht klar zu sein. Laut Scholtz zeigt das Beispiel der sozialen Medien, wie stark der Wunsch nach einem empathischen Miteinander ist. Menschen, die sich oft nicht persönlich kennen, schenken sich gegenseitig Herzchen und Kommentare unter sehr privaten oder traurigen Beiträgen, um eine Art Zugehörigkeit und Wärme zu erzeugen.

Diese Art von öffentlichem Mitgefühl mag in der Gesellschaft polarisieren, da sie für manche unecht wirkt. Doch für viele andere ist dies ein unverzichtbarer Anker, um sich im digitalen Raum nicht allein zu fühlen und Verbundenheit zu erfahren. Scholtz weist darauf hin, dass das Bedürfnis nach echter Empathie in der heutigen Zeit wichtiger ist als je zuvor. Die Welt, so glaubt sie, brauche echte Einfühlung und Verständnis, um nicht in einer Spirale aus Hass und Unverständnis zu versinken.

Insgesamt bleibt die Frage offen, ob die steigende Präsenz von Empathie in der Gesellschaft tatsächlich zu mehr Einfühlungsvermögen führt oder ob es letztlich nur ein Zeichen für die zunehmende Einsamkeit und Entfremdung ist.

Was du dir merken solltest:

  • Empathie gilt heute nicht nur als Fähigkeit, sondern zunehmend als Haltung und Marketingstrategie, die von Unternehmen genutzt wird, um Nähe und Kundenbindung zu schaffen.
  • Die wachsende Präsenz von Empathie, insbesondere in den sozialen Medien, spiegelt ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit und gegenseitigem Verständnis wider.
  • Es besteht die Gefahr, dass Mitgefühl im Marketing eher als Verkaufsinstrument dient und nicht als authentisches Einfühlungsvermögen, was Empathie zu einem „Mittel zum Zweck“ macht.

Übrigens: Viele Menschen zeigen auch Mitgefühl, weil sie damit ihrem Gegenüber gefallen wollen, sogenannte „People Pleaser“. Warum dieses Verhaltensmuster gerade in Beziehungen zum Risiko werden kann, erfährst du in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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