Mehr Geschichten statt nur Gefühl: So haben sich Songtexte in den letzten 60 Jahren verändert
Songtexte erzählen wieder mehr Geschichten. Eine Analyse von 5.000 Chart-Hits zeigt, wie sich erzählerische Elemente in der Musik über Jahrzehnte verstärkt haben.
Bei Taylor Swift zeigt sich besonders deutlich, wie moderne Musik wieder stärker auf erzählerische Songtexte setzt. © Wikimedia
Manche Songtexte sind wie kleine Geschichten. Sie beginnen mit einer Erinnerung, schildern einen bestimmten Moment oder begleiten eine Figur durch einen Tag. Andere Songs verzichten darauf. Sie arbeiten mit Bildern, Stimmungen oder einzelnen Gedanken, ohne einen klaren Ablauf zu erzählen. Beide Formen prägen die Popmusik seit Jahrzehnten. Nun zeigen neue Daten erstmals, wie stark sich Songtexte verändert haben.
Forscher der University of California, Berkeley haben mithilfe von KI ausgewertet, welche Texte Figuren, Ereignisse und Orte enthalten – und welche darauf verzichten. Grundlage der Untersuchung sind mehr als 5.000 Songs aus den Billboard-Jahrescharts zwischen 1960 und 2024. Die Auswertung macht sichtbar, wie sich erzählerische Texte über mehrere Generationen hinweg verändert haben und welche Musikrichtungen diesen Wandel besonders geprägt haben.
So zeigen Songtexte Geschichten anhand klarer Textmerkmale
Für die Analyse entwickelten die Forscher ein Verfahren, das Songtexte systematisch auswertet. Im Fokus stand nicht die Melodie, sondern allein der Text. Zusätzlich zu den tausenden automatisch ausgewerteten Songs prüfte das Team über 1.000 Titel manuell, um die Methode abzusichern. Die Analyse konzentrierte sich auf drei klar definierte Merkmale in den Songtexten:
- handelnde Figuren, die eine erkennbare Perspektive einnehmen
- aufeinanderfolgende Ereignisse, die eine Entwicklung erkennen lassen
- konkrete Orte und Details, die eine erzählbare Welt schaffen
Je deutlicher diese Elemente im Text vorkamen, desto höher fiel der Erzählwert aus. „Wir wollten prüfen, ob sich Geschichten in Songs mit KI-Methoden messen lassen, um besser zu verstehen, wie sich Erzählen in der Musik über ein halbes Jahrhundert verändert hat“, erklärt Studienleiter David Bamman.
Ein klarer Trend über Jahrzehnte hinweg
Das Ergebnis widerspricht einer verbreiteten Annahme. Viele hätten erwartet, dass erzählerische Songs vor allem in den 1960er-Jahren dominierten. Folk-Balladen und Singer-Songwriter wie Joan Baez, Bob Dylan oder Simon & Garfunkel gelten bis heute als Inbegriff musikalischen Erzählens. Doch die Daten zeigen ein anderes Bild. In den Charts dieser Zeit standen häufig Motown-Titel oder Songs der Beatles, die viel weniger narrative Strukturen aufweisen.
Seit den 1990er-Jahren steigt der durchschnittliche Erzählwert in den Charts deutlich. Er kletterte von 2,58 im Jahr 1960 auf 3,72 im Jahr 2024. Die Entwicklung verläuft gleichmäßig und statistisch eindeutig.
Der wichtigste Treiber dieses Wandels ist der wachsende Einfluss von Hip-Hop. Das Genre gewann ab den 1990ern massiv an Bedeutung. Mit ihm setzten sich Texte durch, die Alltag schildern, Konflikte benennen und Erlebnisse Schritt für Schritt erzählen. „Ab den 1990er-Jahren schießt der Erzählwert regelrecht nach oben“, so Literaturwissenschaftler Tom McEnaney.
Hip-Hop setzt den erzählerischen Maßstab
Ein Blick auf die Genres verdeutlicht den Unterschied. Hip-Hop erreicht die höchsten Erzählwerte im gesamten Datensatz. Country folgt mit Abstand. Pop, Disco und Soul liegen deutlich darunter. Viele Pop-Songs setzen weiterhin auf Emotionen, verzichten jedoch auf klare Abläufe.
Ein Grund liegt in der Perspektive. Hip-Hop arbeitet häufig mit Ich-Erzählungen, konkreten Tagen, Orten und Begegnungen. Texte benennen, was gestern geschah oder morgen passieren soll. Diese Struktur erleichtert das Erzählen und macht Inhalte nachvollziehbar.
Gleichzeitig zeigt sich der Wandel längst nicht nur im Hip-Hop. Auch in Rock und Pop tauchen immer häufiger Texte auf, die Figuren, Abläufe und konkrete Orte einbauen. Viele Songs wirken dadurch erzählerischer und greifbarer. Diese Entwicklung hat inzwischen den Mainstream erreicht und verändert spürbar, wie moderne Hits geschrieben werden.
Hip-Hop verbindet Wortkunst mit Handlung
Lange galt Hip-Hop als stark lyrisch, aber kaum erzählerisch. Viele Theorien betonten Improvisation, Wortspiele und Selbstdarstellung. Die neue Analyse widerspricht dieser Sicht deutlich. Laut McEnaney stellt das „die literaturwissenschaftlichen Annahmen der letzten 30 Jahre über Hip-Hop auf den Kopf.“
Die Texte verbinden Rhythmus und Reim mit Handlung und Entwicklung. Erzählen ist kein Randphänomen, sondern ein zentrales Merkmal.
Preise honorieren Texte mit klaren Szenen
Die Analyse zeigt auch, dass erzählerisch aufgebaute Songs im Country-Genre besonders gut abschneiden. Grammy-nominierte Titel enthalten dort häufiger erkennbare Figuren, konkrete Situationen und kleine Alltagsmomente. Ihr Erzählwert liegt im Durchschnitt rund sechs Prozent höher als bei anderen Stücken derselben Künstler.
In Rock, R&B und Rap fällt dieser Unterschied deutlich geringer aus. Dort zählen oft Klang, Produktion oder stilistische Innovation stärker. Im Country dagegen bleibt ein gut strukturierter Text ein wichtiges Qualitätsmerkmal – und beeinflusst spürbar, welche Songs am Ende ausgezeichnet werden.
Kurz zusammengefasst:
- Popmusik erzählt heute wieder messbar mehr Geschichten, weil seit den 1990er-Jahren Songtexte häufiger Figuren, Ereignisse und konkrete Orte enthalten statt nur Gefühle zu beschreiben.
- Haupttreiber dieses Wandels ist Hip-Hop, dessen erzählerische Texte den durchschnittlichen Erzählwert von Chart-Songs deutlich steigen ließen, stärker als Folk oder klassische Balladen.
- Eine KI-Analyse von über 5.000 Songs zeigt, dass Storytelling in der Musik erklärbar, vergleichbar und sogar preisrelevant ist, etwa bei Country-Songs mit Grammy-Nominierungen.
Übrigens: Musik wirkt nicht nur auf Gefühle, sondern offenbar auch auf das Gehirn im Alter. Eine große Studie zeigt, dass regelmäßiges Hören und Musizieren das Demenzrisiko deutlich senken kann. Mehr dazu in unserem Artikel.
