Vergessen Sie Work-Life-Balance: Arbeit bringt mehr Lebensglück als Freizeit
Eine Analyse von 1.500 Biografien zeigt: Arbeit stiftet mehr Lebensglück als Freizeit – unabhängig von Beruf, Alter oder Einkommen.

Nicht der Lohn macht glücklich – sondern das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas zu leisten und Teil einer Gemeinschaft zu sein. © Pexels
Arbeit macht glücklich – zumindest langfristig. Zu diesem Ergebnis kommt der Zürcher Wirtschaftshistoriker Joachim Voth. Für seine Studie wertete er mit zwei Kollegen rund 1.500 Biografien aus den 1930er-Jahren aus. Der überraschende Befund: Für das Lebensglück spielt Arbeit eine viel bedeutendere Rolle als Freizeit, Familie oder Reichtum. Voth kritisiert in einem Interview mit der NZZ die gesellschaftliche Abwertung des Berufslebens: „Arbeit gilt bei uns als etwas Feindseliges.“
Lebensglück: Arbeit stiftet Sinn – nicht nur Einkommen
Die untersuchten Lebensrückblicke zeigen: Menschen empfinden ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden und etwas beitragen zu können. Das Einkommen spielt dabei eine Nebenrolle. Entscheidend sind andere Faktoren: Anerkennung, Stolz auf das Erreichte und soziale Bindungen am Arbeitsplatz.
„Die Arbeit ist weit mehr als ein Mittel zum Geldverdienen“, sagt Voth. Auch körperlich belastende oder einfache Tätigkeiten können erfüllend sein – wenn sie als sinnvoll wahrgenommen werden. Als Beispiel nennt der Forscher eine Bibliothekarin, die großen Stolz daraus zog, anderen Menschen Zugang zu Wissen ermöglicht zu haben.
Sinn geben statt nur funktionieren: Arbeit erfüllt emotional
Neben der Arbeit nennt Voth laut NZZ zwei weitere Quellen für Lebenszufriedenheit: Familie und gesellschaftliches Engagement. Besonders wichtig seien enge familiäre Bindungen und das Gefühl, in der Nachbarschaft oder im Verein etwas bewirken zu können. Wer sich gebraucht fühlt, blickt zufriedener auf sein Leben zurück – unabhängig von Status oder Gehalt.
Die Erkenntnisse stammen aus einem ungewöhnlichen Quellenfundus: In den 1930er-Jahren ließ die US-Regierung Biografien einfacher Bürger schreiben, um deren Lebensrealität zu dokumentieren. Jahrzehntelang lagen diese Texte ungenutzt im Archiv – bis Voth und sein Team sie mithilfe künstlicher Intelligenz analysierten.
KI liest Biografien aus dem Archiv – und zieht überraschende Schlüsse
Dabei prüften die Forscher akribisch, ob die KI die Texte ähnlich interpretiert wie menschliche Leser. Erst als sich zeigte, dass die Abweichungen nicht größer ausfielen als zwischen zwei Menschen, nutzten sie das Verfahren für ihre Auswertung.
Die gesellschaftliche Debatte über kürzere Arbeitszeiten sieht Voth kritisch. Weniger Arbeit bedeute auch weniger Gelegenheit, Fähigkeiten zu entwickeln. Wer Expertise aufbauen wolle, müsse Zeit investieren – Voth verweist auf die „10.000-Stunden-Regel“, die für viele Berufe gelte.
Kürzere Arbeitszeit hemmt Entwicklung – warnt der Ökonom
Zudem sei die Vorstellung falsch, Arbeit stehe dem wahren Leben im Weg. „Erst wenn wir etwas Sinnhaftes leisten können im Leben, finden wir unsere Erfüllung“, betont der Professor. Das gelte auch dann, wenn der Job körperlich oder psychisch anstrengend sei. Denn Herausforderungen böten auch Chancen zur persönlichen Entwicklung.
Voth vergleicht das mit dem Start eines Athleten beim Sprint: Der Stress sei real, doch er ermögliche Spitzenleistung. Auch im Beruf könne Anstrengung ein positives Gefühl auslösen – und langfristig zufrieden machen.
Mehr Freizeit löst nicht das Problem des Fachkräftemangels
In einer Zeit, in der Arbeitskräfte fehlen, sei es unklug, Arbeit weiter zurückzudrängen. Die Politik verschärfe den Mangel noch, wenn sie etwa ältere Menschen zu früh in den Ruhestand schicke. „Es hat überhaupt keinen Sinn, kompetente, erfahrene Leute standardmäßig auszusortieren“, so Voth in der NZZ.
Stattdessen plädiert er für ein längeres Arbeitsleben und weniger steuerliche Hürden für Mehrarbeit. Auch das Ausbildungssystem sei entscheidend: Wer früh in die Arbeitswelt eintauche, entwickle eher ein positives Verhältnis zur Arbeit. Die Schweiz habe hier mit ihrem dualen Ausbildungssystem einen Vorteil.
Gleichzeitig müsse der Respekt vor allen Formen von Arbeit gestärkt werden – nicht nur gegenüber akademischen Berufen. Ein zu großer Graben zwischen Hochqualifizierten und Geringverdienern gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Neue Denkmodelle verbinden Arbeit und Leben flexibler
Neben den Erkenntnissen von Joachim Voth gewinnen auch alternative Modelle zur klassischen Work-Life-Balance an Bedeutung. Zwei Konzepte stechen dabei besonders hervor: Work-Life-Blend und Work-Life-Harmony. Beide schlagen vor, Arbeit nicht als Gegensatz zum Leben zu verstehen, sondern als Teil davon zu gestalten.
Bei der Work-Life-Blend verschmelzen Berufs- und Privatleben stärker miteinander. Wer etwa mittags private Termine wahrnimmt und abends noch Mails beantwortet, lebt bereits nach diesem Prinzip. Die klare Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit entfällt – zugunsten eines individuelleren Rhythmus. Das passt gut zu Voths Haltung, dass Sinnstiftung nicht an Arbeitszeitgrenzen endet.
Arbeit und Leben bewusst verzahnen – statt streng trennen
Das zweite Modell, Work-Life-Harmony, zielt auf mehr Selbstbestimmung. Es fordert dazu auf, persönliche und berufliche Ziele nicht gegeneinander abzuwägen, sondern aufeinander abzustimmen. Wer weiß, was ihm in beiden Lebensbereichen wichtig ist, kann bewusst Entscheidungen treffen – etwa für einen bestimmten Job, flexible Arbeitszeiten oder gezielte Auszeiten. Auch das ergänzt Voths Gedanken: Arbeit wird hier nicht als bloße Pflicht gesehen, sondern als Teil eines größeren Lebensplans.
Beide Modelle bieten moderne Alternativen zur klassischen Vorstellung von Balance – und zeigen Wege auf, wie Arbeit wieder stärker mit Lebensglück verknüpft werden kann.
Kurz zusammengefasst:
- Arbeit ist die wichtigste Quelle für Lebensglück – nicht wegen des Geldes, sondern wegen Sinn, Anerkennung und sozialer Bindung.
- Die klassische Trennung von Arbeit und Freizeit greift zu kurz; moderne Modelle wie Work-Life-Blend und Work-Life-Harmony setzen auf bewusstes Gestalten.
- Weniger Arbeitszeit kann die persönliche Entwicklung bremsen und den Fachkräftemangel verschärfen – gerade ältere Beschäftigte bleiben oft ungenutzt.
Übrigens: Wer Arbeit als Quelle von Lebensglück begreift, darf die eigene Belastungsgrenze nicht aus den Augen verlieren. Burnout entsteht oft schleichend – mehr dazu in unserem Artikel.
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