Wie Erinnerungen entstehen – und warum das Gehirn so gnadenlos aussortiert
Erinnerungen entstehen in mehreren Stufen: Neue Daten zeigen, wie Thalamus und Hirnrinde entscheiden, was bleibt – und was gelöscht wird.
Im Gehirn läuft ein ständiger Auswahlprozess: Nur die wichtigsten Eindrücke schaffen es ins Langzeitgedächtnis – der Rest wird gelöscht. © Pexels
Jeden Tag verwandelt das Gehirn flüchtige Eindrücke, spontane Gedanken und starke Emotionen in Erinnerungen, die unser Selbstbild prägen und unser Handeln leiten. Doch wie entscheidet es, welche dieser Erfahrungen bleiben dürfen – und welche wieder verblassen?
Diese Frage gehört zu den zentralen Rätseln der Neurowissenschaft. Eine neue Studie der Rockefeller University bringt nun Licht in diesen Prozess und zeigt, dass Erinnerungen nicht durch einen einfachen Schalter entstehen, sondern über eine ganze Reihe biologischer „Schaltuhren“, die in mehreren Hirnregionen nacheinander ablaufen.
Wie entstehen Erinnerungen und wann bleiben sie dauerhaft
Lange dominierten in der Gedächtnisforschung zwei Orte: der Hippocampus für kurzfristige Eindrücke und die Hirnrinde für Langzeitwissen. Die Wissenschaft ging von einem simplen Prinzip aus: Das Gehirn schaltet Erinnerungen entweder ein oder aus. Ein kurzer Eindruck erhält ein biologisches „Ja“, dann bleibt er. Oder er erhält ein „Nein“, dann verschwindet er.
Ein Schalter erklärt nicht, warum manche Erinnerungen Wochen halten und andere Jahrzehnte. Das Leben fühlt sich nicht binär an. Das Gedächtnis offenbar auch nicht, kritisiert Studienautorin Priya Rajasethupathy dieses Bild. Sie beschreibt die Gedächtnisbildung als Prozess mit Nachjustierung. „Was wir uns merken, ist ein fortlaufender Prozess und nicht ein einmaliges Umlegen eines Schalters“, sagt sie. Damit bekommt Vergessen eine neue Rolle. Es wirkt nicht wie ein Defekt. Es wirkt wie eine Funktion.
Der Thalamus entscheidet auffällig aktiv mit
Eine Region spielt dabei eine überraschend zentrale Rolle: der Thalamus. Er liegt tief im Gehirn und gilt eigentlich als Umschaltstelle für Signale. Doch in diesem Zusammenhang tut er weit mehr. Er bewertet Eindrücke, sortiert Informationen und leitet sie an die Hirnrinde weiter – dorthin, wo Erinnerungen langfristig verankert werden.
Damit wird klar, dass das Gedächtnis nicht jeden Eindruck übernimmt. In mehreren Schritten entscheidet es, was wirklich Gewicht hat: Wiederkehrende oder emotionale Erfahrungen gelangen weiter, flüchtige Details verschwinden. Dieser Auswahlprozess entsteht aus dem Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen und bestimmt, welche Erinnerungen bleiben – und welche verblassen.
Wiederholung dient als Test für „Wichtigkeit“
Für ihre Experimente setzten die Forscher auf eine virtuelle Umgebung, in der sich Mäuse frei bewegen konnten. Dort sammelten die Tiere gezielt wiederholbare Erfahrungen – etwa bestimmte Abläufe oder Orte. Diese Wiederholungen dienten als Maß für Bedeutung: Was die Mäuse häufiger erlebten, stufte das Gehirn als wichtig ein, seltene Eindrücke dagegen als weniger relevant.
Die Idee wirkt einfach, erlaubt aber präzise Tests. „Indem wir die Häufigkeit bestimmter Erfahrungen veränderten, konnten wir beobachten, dass sich die Mäuse manche Dinge besser merkten als andere“, erklärt Rajasethupathy. Anschließend untersuchte das Team das Gehirn der Tiere, um herauszufinden, welche Prozesse mit der Dauer einer Erinnerung zusammenhängen.
Warum das Gehirn so streng auswählt
Das macht deutlich, warum Erinnerungen überhaupt gefiltert werden. Das Gehirn kann nur einen Teil der täglichen Eindrücke langfristig verarbeiten, deshalb bewertet es fortlaufend, was wirklich Bedeutung hat. Vier Faktoren steuern diese Entscheidung:
- Häufigkeit: Wiederkehrende Erlebnisse gelten als wichtig.
- Emotionale Intensität: Gefühle verstärken die Chance, dass etwas bleibt.
- Nützlichkeit: Informationen, die Orientierung geben, werden bevorzugt.
- Begrenzte Kapazitäten: Zu viele Eindrücke würden das System überlasten, deshalb verhindert Vergessen eine ständige Überforderung.
So entsteht ein Auswahlmechanismus, der nur das behält, was für das eigene Leben relevant ist.
Die Gen-Schere zeigt Ursache statt Zufall
Beobachtungen allein reichten dem Team nicht aus. Um den Zusammenhang wirklich zu prüfen, nutzten die Forscher ein CRISPR-Verfahren, mit dem sich einzelne Gene gezielt verändern lassen. Sie schalteten bestimmte Gene im Thalamus und in der Hirnrinde an oder aus, um zu sehen, ob das die Lebensdauer einer Erinnerung beeinflusst.
Das Ergebnis: Manche Eingriffe ließen Erinnerungen schnell verschwinden, andere erst nach einiger Zeit. Offenbar arbeitet das Gehirn dabei nicht mit einem einzigen Mechanismus, sondern mit mehreren Prozessen, die nacheinander aktiv werden.
Drei Regler halten Erinnerungen erstaunlich lange fest
Die Forscher entdeckten drei Gene, die entscheidend dafür sind, wie lange Erinnerungen bestehen bleiben: Camta1 und Tcf4 im Thalamus sowie Ash1l in der Hirnrinde. Diese Gene speichern Erinnerungen nicht direkt, sie sorgen aber dafür, dass sie stabil bleiben. Wenn eines davon fehlt, verblassen Erinnerungen schneller.
Besonders Camta1 und Tcf4 halten die Verbindung zwischen Thalamus und Hirnrinde aufrecht. Wird diese Verbindung gestört, kann das Gehirn Informationen schlechter behalten.
Hoffnung für Krankheiten, aber noch keine Therapie
Die Ergebnisse könnten auch für Krankheiten wichtig sein, bei denen Erinnerungen verloren gehen – etwa bei Alzheimer. Wenn mehrere Hirnregionen gemeinsam dafür sorgen, dass Erinnerungen stabil bleiben, ließen sich vielleicht Umwege finden, falls eine davon ausfällt.
Rajasethupathy erklärt es so: „Wenn wir die zweite und dritte Region kennen, die für die Festigung wichtig sind, und in der ersten sterben Nervenzellen ab, können wir vielleicht die beschädigte Region umgehen.“ Noch ist das allerdings Zukunftsmusik. Die Studie wurde an Mäusen durchgeführt – sie liefert Hinweise, aber keine Therapie.
Kurz zusammengefasst:
- Erinnerungen entstehen nicht durch einen einzigen Schalter: Das Gehirn nutzt mehrere biologische „Schaltuhren“, die in verschiedenen Regionen nacheinander aktiv werden – vor allem im Thalamus und in der Hirnrinde.
- Drei Gene steuern, wie lange Erinnerungen halten: Camta1, Tcf4 und Ash1l stabilisieren gespeicherte Informationen und verhindern, dass sie zu schnell verblassen.
- Vergessen ist kein Defekt, sondern eine Funktion: Das Gehirn prüft fortlaufend, welche Eindrücke wichtig genug sind, um zu bleiben – und löscht den Rest gezielt.
Übrigens: Ein verjüngter Blick in den Spiegel kann Erinnerungen wecken. Wer sein Gesicht als Kind sieht, ruft frühere Erlebnisse erstaunlich detailreich ab – mehr dazu in unserem Artikel.
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