Forscher beobachten, wie das Gehirn entscheidet, was wir wann sehen
Das Gehirn filtert Eindrücke in Millisekunden: Erst erkennt es Bewegung oder Farbe, dann entscheidet es über Richtung und Details.

Ein besseres Verständnis des Gehirns kann für die Hirngesundheit wichtig sein. Beispielsweise Menschen mit ADHS oder Autismus könnten demnach verzögert den Fokus finden. © Unsplash
Ob beim Überqueren der Straße, beim Autofahren oder beim Sport – unser Gehirn muss blitzschnell entscheiden, worauf es sich konzentriert. Erst erkennen wir, dass sich überhaupt etwas bewegt, und erst einen Moment später, ob es ein Fahrrad, ein Auto oder ein Ball ist.
Eine Studie der University of California zeigt nun, dass diese Reihenfolge kein Zufall ist: Aufmerksamkeit läuft in zwei Schritten ab – erst richtet sich der Blick auf das Grobe, dann auf die Details. Dafür setzten die Forscher Elektroenzephalografie (EEG), Eye-Tracking und maschinelles Lernen ein. Besonders untersucht wurde dabei die Aktivität im sogenannten Alpha-Band (8–12 Hertz), das eng mit Aufmerksamkeitsprozessen verknüpft ist.
Aufmerksamkeit richtet sich zuerst breit, dann eng
„Unser Gehirn bereitet die Aufmerksamkeit zunächst vor, indem es Neuronen für die breite Kategorie des erwarteten Objekts aktiviert und anschließend die Fokussierung schärft“, erklärt George R. Mangun, Professor für Psychologie und Neurologie. Das bedeutet: Aufmerksamkeit ist ein hierarchischer Prozess, der Schritt für Schritt verfeinert wird.
Ein zentrales Steuerzentrum im Gehirn, das frontoparietale Netzwerk, gibt dabei die Signale und entscheidet, welche Reize verstärkt und welche unterdrückt werden.
25 Teilnehmer zwischen 19 und 39 Jahren nahmen an der Studie teil. Sie sahen bunte Punkte auf einem Bildschirm und sollten entweder auf eine bestimmte Farbe achten oder auf die Bewegungsrichtung. Schon in der Vorbereitungsphase, noch bevor die Punkte erschienen, zeigten die Messungen, wie das Gehirn seine Aufmerksamkeit formte.
Mit speziellen Computer-Algorithmen (sogenanntem multivariaten Decoding) ließen sich diese Muster im EEG sichtbar machen.
Millisekunden entscheiden über das Detail
Die Auswertung ergab klare Zeitunterschiede.
- Für die breite Kategorie – Bewegung oder Farbe – benötigte das Gehirn etwa 240 Millisekunden.
- Für das spezifische Merkmal – etwa Blau statt Grün oder Aufwärtsbewegung statt Abwärtsbewegung – brauchte es im Schnitt 400 Millisekunden.
„Die Steuerungssysteme stimmen das Gehirn zuerst grob ab und verfeinern es dann“, so Mangun. Er verglich den Prozess mit einem Piloten, der zunächst Europa ansteuert und später auf eine konkrete Stadt zielt.
Farben verdrängen Bewegungen und umgekehrt
Besonders interessant: Die Aufmerksamkeit blendet Störreize aktiv aus. „Wenn die Aufmerksamkeit auf die Farbe der Punkte gerichtet ist, unterdrückt das Gehirn die Bewegung und umgekehrt“, so Studienleiter Sreenivasan Meyyappan.
Die Analysen zeigten, dass das Gehirn nicht alles gleichzeitig verarbeitet. Es sortiert, filtert und setzt Prioritäten und das in Bruchteilen einer Sekunde. Für die Teilnehmer bedeutete das, dass sie gezielt nur das wahrnahmen, was für die jeweilige Aufgabe wichtig war.
Warum jede Millisekunde für Sicherheit zählt
Die Ergebnisse erklären, warum Entscheidungen im Alltag so stark von diesem Prozess abhängen. Im Straßenverkehr zählt jede Millisekunde:
- Zuerst nimmt das Gehirn wahr, dass sich etwas bewegt.
- Erst danach erkennt es die Richtung und kann die Reaktion anpassen.
Beim Sport läuft es ähnlich ab. Ein Torwart etwa sieht zuerst, dass der Ball fliegt, und erst kurz darauf, wohin er sich bewegt. Der Erfolg hängt davon ab, wie präzise und schnell das Gehirn diesen Wechsel von grobem zu feinem Fokus vollzieht.
Neue Ansätze bei Aufmerksamkeitsstörungen
Die Erkenntnisse könnten helfen, Störungen besser zu verstehen. Menschen mit ADHS oder Autismus könnten Schwierigkeiten haben, die Aufmerksamkeit rechtzeitig zu verfeinern. Wenn das Gehirn länger braucht, um sich auf Details einzustellen, erschwert das Wahrnehmung und Lernen.
„Verstehen wir besser, wie Aufmerksamkeit gebündelt wird, können wir auch herausfinden, welche Teile des Systems bei Störungen nicht richtig arbeiten“, sagte Mangun. Genau hier könnte künftige Forschung neue Wege für Diagnostik und Therapie eröffnen.
Technik anpassen und Menschen entlasten
Die Studie liefert auch Impulse für technische Entwicklungen. Cockpits, Fahrerassistenzsysteme oder AR-Brillen könnten so gestaltet werden, dass sie den menschlichen Rhythmus der Aufmerksamkeit berücksichtigen. Systeme, die zunächst grobe Muster erfassen und dann Details liefern, passen sich besser an die Art an, wie das Gehirn arbeitet.
Kurz zusammengefasst:
- Aufmerksamkeit im Gehirn läuft in zwei Schritten ab: Zuerst wird eine breite Kategorie wie Bewegung oder Farbe aktiviert, danach das konkrete Detail.
- Dieser Prozess dauert nur Millisekunden: Etwa 240 Millisekunden für die grobe Einstellung, rund 400 Millisekunden für die präzise Fokussierung.
- Das Gehirn blendet Störreize aktiv aus – ein Mechanismus, der Alltag, Verkehr, Sport und das Verständnis von Aufmerksamkeitsstörungen erklärt.
Übrigens: Forscher haben Kontaktlinsen entwickelt, die unsichtbares Infrarotlicht sichtbar machen, sogar bei geschlossenen Augen. Mehr dazu in unserem Artikel.
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