Rollkoffer statt Kinderwagen: Kyoto verliert seine Bewohner an den Tourismus

In Teilen von Kyoto gibt es mehr Hotels als Haushalte. Das treibt die Mieten hoch und verdrängt die einheimische Bevölkerung.

In mehreren Stadtteilen von Kyoto gibt es inzwischen mehr Hotels als Haushalte – besonders rund um Bahnhöfe und berühmte Tempel.

In mehreren Stadtteilen von Kyoto gibt es inzwischen mehr Hotels als Haushalte – besonders rund um Bahnhöfe und berühmte Tempel. © Pexels

In Kyoto, Japans historischer Kaiserstadt, geraten viele Bewohner unter Druck: In einigen Stadtteilen gibt es inzwischen mehr Hotels als Haushalte. Die Folge: Wohnungen verschwinden, Mieten steigen, Nachbarschaften lösen sich auf. Was bleibt, ist eine Stadt, die immer weniger den Menschen gehört, die in ihr leben.

Besonders betroffen sind die Randbereiche des historischen Zentrums – dort, wo täglich Tausende Touristen aus Bahnhöfen strömen, Selfies vor Tempeln machen und in Airbnb-Unterkünften übernachten. Für die Menschen, die hier aufgewachsen sind, wird es eng. Ihre Wohnviertel verwandeln sich in Schlafstätten für Fremde.

Kyoto: Wo Hotels Haushalte überholen und Einheimische verdrängt werden

Die Forscher sprechen von „Tourism Gentrification“. Wörtlich heißt das: Der touristische Zustrom hat zur Aufwertung von Immobilien geführt und zur Verdrängung der Anwohner. Gemeint ist damit, dass aus einfachen Mietwohnungen gewinnbringende Ferienapartments werden. Wer früher hier gewohnt hat, kann sich das Leben in der Nachbarschaft oft nicht mehr leisten.

Diese Entwicklung betrifft längst nicht nur Einzelfälle. Im Viertel Rissei liegt der sogenannte Tourismus-Unterkunftsindex bei 5,31 – dort gibt es also mehr als fünfmal so viele Zimmer für Gäste wie Haushalte. Auch in anderen Teilen der Stadt übersteigt das Angebot an Touristenunterkünften längst die Zahl der Wohnungen. Diese Hotspots befinden sich fast alle in unmittelbarer Nähe von Bahnhöfen oder weltberühmten Sehenswürdigkeiten.

Touristenrekorde – und kaum noch Platz für Einheimische

Kyoto zählt rund 1,4 Millionen Einwohner. Die Zahl der Haushalte liegt bei etwa 737.000. Doch im April 2024 kamen allein in einem Monat fast 970.000 Übernachtungsgäste in die Stadt – deutlich mehr als im Vergleichsmonat vor der Pandemie. Über 3.000 Unterkünfte sind allein auf booking.com gelistet – genauso viele wie in Barcelona oder Madrid.

Was für Reisende nach perfekter Infrastruktur klingt, bedeutet für viele Einheimische eine drastische Veränderung ihres Alltags. Die Nachfrage nach zentral gelegenen Unterkünften und Hotels treibt die Preise für Wohnungen in die Höhe. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Menschen, die sich das Leben in ihren alten Vierteln noch leisten können. Das trifft besonders junge Familien und ältere Menschen.

Bahnhöfe und Touristen-Hotspots als Katalysator für Verdrängung

Die Auswertung der Osaka Metropolitan University zeigt: Besonders stark betroffen sind Viertel mit guter Bahnanbindung. „Stadtteile in der Nähe von Hauptbahnhöfen neigen besonders dazu, touristische Hotspots zu werden“, schreiben die Autoren. Auch die Nähe zu UNESCO-Welterbestätten verstärkt den Effekt. Wer in diesen Gegenden wohnen möchte, konkurriert direkt mit internationalen Besuchern – und verliert oft.

Dabei betrifft die Krise nicht die ganze Stadt, sondern vor allem einzelne Stadtteile. Gerade deshalb braucht es laut den Forschern passgenaue Lösungen – dort, wo das Gleichgewicht zwischen Tourismus und Wohnraum kippt.

Zonenregelung als möglicher Ausweg?

Die Wissenschaftler empfehlen der Stadt Kyoto eine klarere Linie in der Stadtplanung – vergleichbar mit Barcelona, wo besonders belastete Viertel durch gesetzliche Zonenregelungen vor weiterer Ausbreitung touristischer Unterkünfte geschützt sind. Auch in Madrid und San Sebastián gelten ähnliche Einschränkungen.

„Die Stadt Kyoto sollte Zonenregelungen für Stadtteile rund um die großen Bahnhöfe entwickeln“, sagt der leitende Forscher Haruka Kato. Ziel sei es, „die touristische Übernutzung lokal zu begrenzen, bevor ganze Nachbarschaften verschwinden.“ Als Grundlage für solche Regelungen schlagen die Forscher sogenannte „Nachbarschaftseinheiten“ vor – Stadtviertel im Einzugsbereich von Grundschulen, die in Kyoto traditionell auch bei kommunalen Planungen eine zentrale Rolle spielen.

Die Stadt verliert ihre Bewohner – und ihr Gesicht

Hinter all den Zahlen steht eine tiefgreifende Veränderung des Stadtlebens. Alteingesessene Familien müssen ihre Viertel verlassen. Neue Nachbarn bleiben zwei Nächte – dann kommt der nächste Schwung. Die Straßen sind voller Rollkoffer, aber leer an wirklichem Zusammenhalt. Wo früher die Kinder zur Schule gingen, wo die Nachbarin noch die Katze fütterte, entstehen jetzt Schilder mit QR-Codes für die digitale Schlüsselübergabe.

Traditionelle Läden machen dicht, weil Stammkundschaft fehlt. Handwerker, Buchhändler, der lokale Bäcker – viele haben bereits aufgegeben. Stattdessen entstehen Souvenirshops, Bubble-Tea-Ketten und „Co-Living“-Hostels.

„Der Verlust von Bevölkerung durch touristische Gentrifizierung wird von den lokalen Gemeinschaften als negativ empfunden“, erklären die Studien-Autoren. Kyoto droht, seine Identität zu verlieren – Stück für Stück, Straße für Straße.

Wenn die Stadt ihre Bewohner verliert, verliert sie mehr als nur ein paar Adressen. Sie verliert ihr Gedächtnis, ihre Geschichten, ihr Leben. Und sie verliert das, was sie für viele einst so besonders gemacht hat. Was nützt eine schöne Stadt, wenn sie nur noch Kulisse ist?

Kurz zusammengefasst:

  • In mehreren Stadtteilen von Kyoto gibt es inzwischen mehr Hotels als Haushalte – besonders betroffen sind Viertel in Bahnhofsnähe und nahe Sehenswürdigkeiten.
  • Die hohe Tourismusdichte führt zu steigenden Mieten, Wohnraummangel und einer spürbaren Verdrängung der einheimischen Bevölkerung.
  • Forscher empfehlen der Stadt gezielte Zonenregelungen, um das Gleichgewicht zwischen Tourismus und Wohnen wiederherzustellen.

Übrigens: Während Kyoto unter der Last der Touristenmassen ächzt und Rollkoffer die Gassen dominieren, gibt es in Japan noch Orte, die Ruhe, Schönheit und Authentizität bieten. Drei kaum bekannte Reiseziele zeigen, wie sich Japans Kultur auch abseits der Hotspots erleben lässt – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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