Versteckter Zell-Sensor entdeckt – So steuert der pH-Wert unsere Immunabwehr
Immunsystem und pH-Wert sind enger verbunden als gedacht: Ein Zellprotein entscheidet, wie stark der Körper auf Entzündungen reagiert.

Ein neu entdeckter Zell-Schalter zeigt: Der pH-Wert im Gewebe beeinflusst, wie gezielt das Immunsystem auf Entzündungen reagiert (Symbolbild). © DALL-E
Normalerweise schützt das Immunsystem den Körper zuverlässig: Es erkennt Krankheitserreger, zerstört defekte Zellen und verhindert größere Schäden im Gewebe. Doch manchmal reagiert es zu spät, übertrieben oder sogar gegen gesundes Gewebe. Besonders bei chronischen Entzündungen oder Krebserkrankungen versagt dieser Schutzmechanismus.
Ein internationales Forschungsteam, darunter Wissenschaftler des Boston Children’s Hospital, hat nun eine bisher wenig beachtete Ursache untersucht: das chemische Milieu in den Zellen. In der Fachzeitschrift Cell berichten sie, wie der pH-Wert das Immunsystem beeinflusst – und mitentscheidet, wie aktiv oder zurückhaltend unsere Abwehrzellen reagieren.
pH-Wert steuert Immunsystem durch Zellprotein BRD4
Im Zentrum der Untersuchung steht das Zellprotein BRD4. Es funktioniert wie ein Sensor, der Veränderungen im pH-Wert innerhalb der Zelle wahrnimmt. Wird das Gewebe bei einer Entzündung oder Infektion saurer, reagiert BRD4 direkt darauf – und verändert, welche Gene in Immunzellen aktiv sind.
Dadurch wird gezielt gesteuert, ob Abwehrprozesse verstärkt oder gebremst werden. Das hilft dem Körper, Erreger zu bekämpfen, ohne gesundes Gewebe unnötig zu schädigen.
Die Forscher untersuchten, wie sich der pH-Wert bei Entzündungen verändert. Dabei beobachteten sie klare Muster:
- Nach sechs Stunden: Der pH-Wert im Gewebe von Mäusen sank spürbar.
- Nach einem Tag: In manchen Geweben lag der Wert unter 6,5 – deutlich unter dem Normalwert von etwa 7,4.
- Auch Lymphknoten und Tumore zeigten ein saures Milieu. Dort verhalten sich Immunzellen wie Makrophagen anders als in neutraler Umgebung.
Makrophagen passen ihre Genaktivität an
Makrophagen, auch als Fresszellen bekannt, sind zentrale Akteure der Immunabwehr. Sie erkennen schädliche oder tote Zellen und reagieren sehr sensibel auf veränderten pH-Wert:
- Sie reduzieren die Aktivität bestimmter Entzündungs-Gene wie Il1b oder Il6.
- Gleichzeitig erhöhen sie die Aktivität anderer Gene wie Ifnb1 – teils bis zum 20-fachen.
- Die Immunantwort bleibt aktiv, richtet aber keinen unnötigen Schaden an.
Die Zellen reagieren also nicht pauschal, sondern passen ihr Verhalten gezielt an das chemische Umfeld an.
Wie BRD4 saures Milieu erkennt – und die Genaktivität steuert
Molekular betrachtet funktioniert BRD4 wie ein pH-Schalter: In seinem Inneren befindet sich ein sogenanntes histidinreiches, ungeordnetes Proteinsegment (IDR). Wird das Zellmilieu saurer, verändern sich die elektrischen Ladungen dort – BRD4 verliert seine Fähigkeit, sogenannte „transkriptionelle Kondensate“ zu bilden. Diese kleinen, flüssigen Zellstrukturen sind notwendig, um bestimmte Gene einzuschalten.
Vor allem Gene, die eine starke Immunreaktion auslösen würden – darunter Il6, Il12b oder Endothelin-1 – bleiben dann still. Andere, wie das Interferon-Ifnb1, werden dagegen sogar stärker aktiviert.
Dieser Effekt konnte sowohl in lebenden Immunzellen als auch in isolierten Zellkernen beobachtet werden. Die pH-Sensitivität entsteht offenbar direkt durch die Histidinreste – eine Art natürlicher pH-Sensor, der Umweltsignale direkt in Genregulation übersetzt.
pH-Wert ist entscheidend für Immunfunktion
„Diese Funde eröffnen eine neue Denkweise darüber, wie unser inneres Milieu die Immunfunktion formt“, heißt es in der Studie.
Der pH-Wert spielt dabei eine zentrale Rolle – nicht nur bei Infektionen, sondern auch bei Autoimmunerkrankungen und Krebs. Frühere bekannte Sensoren wie GPR65 oder HIF1α konnten diese präzise Steuerung nicht erklären. BRD4 jedoch erkennt die Säureveränderung direkt und steuert die Genregulation entsprechend – über die Bildung oder Auflösung seiner Kondensate.
Neue Therapien gegen Krebs denkbar
Besonders in Tumoren ist das Gewebe häufig sauer – bedingt durch den intensiven Zuckerstoffwechsel der Krebszellen. Die Folge: Immunzellen schalten ab oder werden gehemmt, was viele Therapien behindert.
Mit dem Wissen um BRD4 als pH-Sensor könnten neue Medikamente entwickelt werden. Sie sollen Immunzellen gezielt in saurer Umgebung reaktivieren – und so die körpereigene Abwehr gegen Krebs verbessern.
„Der pH-Wert wirkt wie ein molekulares Feedback-System“, schreiben die Autoren. „Er hilft dem Immunsystem, übermäßige Entzündung zu vermeiden – aber lässt sich vielleicht auch therapeutisch nutzen, um gezielt gegenzusteuern.“
Schon heute werden sogenannte BET-Inhibitoren, die BRD4 blockieren, in der Krebstherapie getestet. Die neue Studie legt nahe, dass es sich lohnen könnte, gezielter vorzugehen: nicht BRD4 komplett auszuschalten, sondern seine pH-abhängigen Funktionen selektiv zu modulieren – etwa durch Eingriffe in das histidinreiche Sensorsegment.
Kurz zusammengefasst:
- Der pH-Wert im Körper beeinflusst das Immunsystem direkt, indem er steuert, wie stark oder schwach Abwehrzellen auf Entzündungen reagieren.
- Das Protein BRD4 wirkt als Sensor für pH-Veränderungen in Zellen und reguliert gezielt entzündungsfördernde oder -hemmende Gene.
- Diese Erkenntnisse ermöglichen neue Therapieansätze für Krankheiten wie Krebs oder Autoimmunstörungen, bei denen das Zellmilieu aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Übrigens: HIV trickst das zelluläre Transportsystem geschickter aus als bislang bekannt. Das Virus nutzt mehrere Wege, um sein Ziel zu erreichen – und entzieht sich so gezielten Blockaden. Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © DALL-E