Warum sich Wurmknäuel nicht entwirren – und was das mit Kunststoffen zu tun hat

Ein scheinbar wirres Wurmknäuel hilft Forschern, Materialien besser zu verstehen. Dabei geht es auch um smarte Kunststoffe.

Was die Polymer-Physik über Wurmknäuel herausgefunden hat

Knäuel aus 200 Glanzwürmern (Lumbriculus variegatus). © Patil et al., Science 380, 392-398 (2023)

Wenn sich Würmer ineinander winden und zu einem dichten Wurmknäuel verheddern, wirkt das zunächst chaotisch – doch genau solche Strukturen helfen Wissenschaftlern dabei, die Eigenschaften moderner Kunststoffe besser zu verstehen, vor allem, wenn sich deren Bausteine aktiv bewegen und sich dabei gegenseitig blockieren. Forscher der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) haben zusammen mit Kollegen aus Darmstadt und Dresden in einer Studie untersucht, warum ausgerechnet Bewegung zu dieser Verhakung führt.

In einem Wurmknäuel führt die ständige Bewegung nämlich nicht dazu, dass sich alles entwirrt – im Gegenteil: Die Teile verhaken sich immer mehr.

Warum sich verknotete Polymere nur mühsam wieder entwirren

In der Natur finden sich viele solcher Knäuel: Regenwürmer, die sich zu Haufen zusammenziehen. Tentakel von Feuerquallen, die sich ineinander verfangen. Auch Roboterarme greifen nach diesem Prinzip. Sogar in Zellen winden sich bewegliche Fasern durch enge Räume. In solchen Systemen sprechen Wissenschaftler von Polymerketten. Bislang erklärte ein bewährtes Modell der Polymerphysik ihr Verhalten. Eine einzelne Kette schlängelt sich zufällig durch eine Art unsichtbare Röhre, die ihre Nachbarketten bilden. So lässt sich berechnen, wie lange eine Kette braucht, um sich zu befreien.

Prof. Dr. Hartmut Löwen von der HHU beschreibt es so: „Mit diesem Bild können Physiker vorhersagen, wie schnell sich eine Kette aus einem Knäuel befreien kann.“ Die Zeit bis zur Befreiung wächst mit der Länge der Kette. Je länger die Kette, desto länger dauert es.

Aktive Bewegung verändert die Regeln

Doch was passiert, wenn die Ketten selbst aktiv zappeln? Diese Frage beschäftigte Forscher lange. In lebenden Organismen, bei beweglichen Würmern oder selbstangetriebenen Biopolymere, reicht die alte Theorie nicht mehr aus. Deshalb simulierten die Teams aus Düsseldorf, Darmstadt und Dresden erstmals solche aktiven Polymersysteme am Computer. Das Ergebnis: Die bisherigen Gesetze gelten hier nicht mehr. Aktive Bewegung verändert die Dynamik vollständig.

Computersimulationsschnappschuss von verhakten aktiven flexiblen Polymerfäden. Verschiedene Farben deuten verschiedene Ketten an. © HHU / Davide Breoni
Computersimulationsschnappschuss von verhakten aktiven flexiblen Polymerfäden. Verschiedene Farben deuten verschiedene Ketten an. © HHU / Davide Breoni

Um diese Ergebnisse zu erhalten, nutzten die Forscher aufwändige Brownian-Dynamics-Simulationen. Sie zeigen, wie sich die aktiven Ketten durch ihre eigene Bewegung verheddern und so immer steifer werden. Dadurch entsteht eine Art unsichtbares Netz, das sich selbst stabilisiert.

Verhaken statt befreien

Die Wissenschaftler bestimmten neue mathematische Größen, sogenannte Exponenten, um die Bewegung der aktiven Ketten zu beschreiben. Dabei zeigte sich: Die Ketten verhaken sich viel stärker. Durch interne Greifkräfte blockieren sie einander so, dass das gesamte Knäuel versteift.

Dr. Davide Breoni, Erstautor der Studie, erzählt: „Es war mühevoll, diese Knäuel für verschiedene Polymergrößen in unserem Rechnermodell zu präparieren.“

Je mehr Bewegung, desto mehr Blockade

Die neuen Gesetze revolutionieren die Polymerphysik. Sie zeigen, dass lebendige Systeme sich sehr einfach kollektiv verhaken, wodurch sie insgesamt versteifen.

Dr. Suvendu Mandel

Besonders überraschend: Obwohl sich die Ketten aktiv bewegen, verknoten sie sich stärker und kommen schlechter frei. Das verändert auch ihre mechanischen Eigenschaften deutlich. Die Knäuel werden weniger zäh, als man es von klassischen Polymeren erwarten würde. Die sogenannte Viskosität – also wie dickflüssig oder widerspenstig ein Material ist – steigt bei aktiven Ketten deutlich langsamer an. Normalerweise nimmt die Zähigkeit mit der dritten Potenz der Kettenlänge zu, hier genügt bereits die zweite. Gleichzeitig gewinnen die Knäuel an Elastizität: Sie lassen sich stärker dehnen und kehren schneller in ihre Ausgangsform zurück.

Erkenntnisse für Roboter, medizinische Implantate und Co.

Prof. Löwen sieht darin konkrete Anwendungsmöglichkeiten: „Mit ihnen können neue „smarte Materialien“ entwickelt werden, die sich auf Knopfdruck versteifen, also ihre visko-elastischen Eigenschaften drastisch ändern.“

Diese Eigenschaft könnte etwa bei Robotern, flexiblen Greifarmen oder medizinischen Implantaten nützlich sein. Materialien könnten sich an wechselnde Anforderungen anpassen: weich, wenn Beweglichkeit gebraucht wird, fest, wenn Stabilität nötig ist.

Kurz zusammengefasst:

  • Bei aktiven Polymerketten sorgt Bewegung dafür, dass sich die Ketten gegenseitig blockieren und stark versteifen.
  • Forscher ermittelten neue Skalierungsgesetze und Exponenten, die das Verhalten aktiver Polymere erstmals genau beschreiben.
  • Diese Erkenntnisse ermöglichen die Entwicklung smarter Materialien, die je nach Bedarf flexibel oder fest werden können.

Übrigens: Neue Messungen am CERN könnten eine wichtige Lücke im Verständnis der Teilchenphysik schließen. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © HHU

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