Forscher schalten Angst aus – Wiederherstellung der Balance im Gehirn macht’s möglich

Ein gestörtes Gleichgewicht in der Amygdala kann Angst auslösen – Forscher zeigen, wie sich diese neuronale Schieflage beheben lässt.

Wie Balance im Gehirn Angst ausschalten kann

Balance im Gehirn entscheidet, ob wir ruhig bleiben oder in Alarmbereitschaft geraten – ihr Verlust kann Angst und Stress verstärken. © Pexels

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland. Millionen Menschen kennen das Gefühl, ohne ersichtlichen Grund innerlich zu zittern, den Atem kaum zu spüren oder am liebsten zu fliehen. Medikamente und Therapien können helfen, doch oft bleiben Symptome bestehen oder kehren zurück. Jetzt liefert ein internationales Forscherteam aus Spanien neue Hinweise darauf, wie sich Angst an ihrer Wurzel beeinflussen lässt – im Gehirn selbst.

Die Arbeit des Institute for Neurosciences (CSIC-UMH) unter Leitung von Juan Lerma von der Universidad Miguel Hernández de Elche zeigt, dass Angst im Gehirn durch eine gestörte Balance in der Amygdala entsteht – und dass sich dieses Gleichgewicht wiederherstellen lässt. Dieses Areal im Schläfenlappen gilt als das emotionale Zentrum des Gehirns. Lerma und sein Team konnten diesen Zustand bei Mäusen gezielt umkehren.

Wie die Balance in der Amygdala die Angst steuert

Im Mittelpunkt steht ein Gen mit dem Namen Grik4, das für einen bestimmten Glutamat-Rezeptor (GluK4) kodiert. Ist dieses Gen überaktiv, steigt die Erregbarkeit der Nervenzellen. Genau das beobachteten die Forscher bei ihren Versuchstieren: Sie zeigten deutliche Anzeichen von Angst, Rückzug und depressivem Verhalten.

Das Team korrigierte die übermäßige Aktivität des Gens nur in einem kleinen Teil der Amygdala, der sogenannten basolateralen Amygdala (BLA). Das Ergebnis war erstaunlich: Die Tiere bewegten sich wieder freier, wagten sich in offene Bereiche und zeigten normales Sozialverhalten. „Wir wussten schon, dass die Amygdala bei Angst und Furcht eine Rolle spielt“, erklärt Lerma. „Aber jetzt konnten wir eine bestimmte Zellpopulation identifizieren, deren Ungleichgewicht allein ausreicht, um pathologische Verhaltensweisen auszulösen.“

Diese Zellen gehören zu einer Untergruppe in der zentrolateralen Amygdala (CeL), den sogenannten „regular firing neurons“. Sie steuern, wie stark Signale aus der BLA weitergeleitet werden – und damit, ob das Gehirn auf Bedrohung oder Entspannung programmiert ist.

Feine Balance im Gehirn entscheidet über Angst oder Ruhe

Durch gezielte Eingriffe brachten die Forscher das neuronale Gleichgewicht in der Amygdala wieder ins Lot. Dafür verwendeten sie spezielle Viren als Transportvehikel, die den überaktiven Rezeptor im Gehirn drosselten. Schon wenige Wochen nach der Behandlung reagierten die Mäuse deutlich entspannter auf Reize.

In Verhaltenstests, etwa im „Open Field“ oder im „Elevated Plus Maze“, ließ sich dieser Effekt klar messen:

  • Die Tiere hielten sich häufiger in offenen, hellen Bereichen auf – ein Zeichen für weniger Angst.
  • In Sozialtests suchten sie wieder Kontakt zu Artgenossen.
  • Auch Anzeichen von Depression, etwa längere Bewegungsstarre, gingen zurück.

„Diese einfache Korrektur reichte aus, um Angst und soziale Defizite umzukehren – das ist bemerkenswert“, sagt Álvaro García, Erstautor der Studie.

Die Forscher überprüften auch die Gehirnaktivität mithilfe elektrophysiologischer Messungen. Dabei zeigte sich: Durch das Gleichgewicht der Nervenzellen normalisierten sich die Signale zwischen verschiedenen Amygdala-Bereichen. Angst war in den Schaltkreisen buchstäblich abgeschaltet.

Wie entsteht Angst im Gehirn – und warum lässt sie sich umkehren?

Der Schlüssel liegt im Zusammenspiel von Erregung und Hemmung. Im gesunden Zustand halten sich beide Kräfte im Gleichgewicht. Wird dieses Verhältnis gestört, feuern manche Nervenzellen zu stark – und die Amygdala schickt ein Alarmsignal. Diese überaktive Kommunikation löst Angst und Stress aus, selbst wenn keine echte Gefahr besteht.

Die Studie legt nahe, dass die Amygdala zwei Arten von Zellen enthält, die wie Gegenspieler arbeiten:

  • Regular firing cells: Sie reagieren schnell und fördern angstbezogene Signale.
  • Late firing cells: Sie bremsen die Aktivität und tragen zu Entspannung bei.

Wird das Gleichgewicht zwischen beiden wiederhergestellt, verschwinden die Symptome. Angst entsteht also nicht nur „im Kopf“, sondern in klar messbaren Mustern neuronaler Aktivität.

Chancen für neue Therapien gegen Angststörungen

Noch handelt es sich um Grundlagenforschung an Mäusen. Doch das Prinzip könnte langfristig helfen, Therapien gezielter zu entwickeln. Statt das gesamte Gehirn mit Medikamenten zu beeinflussen, könnten künftige Behandlungen spezifische Schaltkreise ansteuern – zum Beispiel mithilfe von Gentherapie oder gezielten Hirnstimulationen.

Gerade für Menschen, bei denen herkömmliche Medikamente nicht wirken oder starke Nebenwirkungen verursachen, wäre das ein wichtiger Fortschritt. Denn die Studie zeigt, dass Angstzustände nicht zwingend dauerhaft sein müssen. Sie sind das Ergebnis eines verschiebbaren Gleichgewichts – und damit grundsätzlich reversibel.

Kurz zusammengefasst:

  • Angst entsteht durch ein Ungleichgewicht bestimmter Nervenzellen in der Amygdala, dem emotionalen Zentrum des Gehirns.
  • Wird diese Balance zwischen aktivierenden und hemmenden Zellen im Gehirn wiederhergestellt, verschwinden Angst, depressive Symptome und sozialer Rückzug.
  • Die Studie zeigt, dass sich emotionale Störungen gezielt über neuronale Schaltkreise beeinflussen lassen – ein möglicher Ansatz für neue Therapien.

Übrigens: Nicht nur Angst entsteht durch ein Ungleichgewicht im Gehirn. Auch in der Nacht verliert der Kopf seine Balance – Konzentration sinkt, Emotionen übernehmen. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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