Räuber, Filterfresser, Aasvertilger: Wer frisst im Meer eigentlich wen?
Forscher des Helmholtz-Zentrums durchleuchten Räuber-Beute-Beziehungen neu. Ihr Modell zeigt, wie Nahrungsnetze im Meer wirklich funktionieren.

Im offenen Meer gelten andere Regeln: Fischschwärme und Raubfische zeigen das wahre Gesicht der Nahrungsnetze – ein neues Modell deckt bisher unbekannte Fressmuster auf. © Hereon/iStock
Ein Orca, der einen Wal angreift. Ein Bartenwal, der tonnenweise Krill aus dem Wasser filtert. Winzige Krebstiere, die sich von abgestorbenen Algenresten ernähren. Diese scheinbar voneinander losgelösten Szenen gehören alle zu demselben System: Es betrifft die Nahrungsnetze im Meer. Forscher am Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht haben dieses Netz nun präziser berechenbar gemacht – mit einem neuen Computermodell, das die Regeln der Meeresökologie neu schreibt.
Bisherige Simulationen stießen immer wieder an Grenzen. Die neuen Berechnungen bilden erstmals bis zu 90 Prozent der Räuber-Beute-Beziehungen im Meer realistisch ab. Die Studie erschien im Fachjournal Nature Ecology & Evolution.
Grenzen klassischer Modelle: Warum herkömmliche Fressregeln oft nicht ausreichen
Die meisten herkömmlichen Modelle beruhen entweder auf artspezifischen Daten oder auf Größenverhältnissen. Doch beide Ansätze haben Schwächen. Der Hereon-Forscher Kai Wirtz erklärt: „Von vielen Organismen im Meer wissen wir noch gar nicht, was sie fressen, wie viel oder von wem sie gefressen werden.“ Die Datenlage sei einfach zu dünn, um jedes Detail exakt zu modellieren.
Größenbasierte Modelle wiederum gehen oft davon aus, dass Räuber Beute jagen, die fünf- bis zehnmal kleiner ist als sie selbst. Diese Regel passt laut dem Erstautor der Studie, Dr. Ovidio Fernando García-Oliva, aber nur bei etwa der Hälfte aller marinen Arten.
Drei zentrale Beutemuster, die Nahrungsnetze im Meer bestimmen
Die Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum Hereon entwickelten daher ein Modell, das auf drei Fressstrategien basiert. Die erste: Räuber fressen kleinere Beute – das ist der klassische Fall. Die zweite: „Räuber fressen deutlich größere Beute, unabhängig von der eigenen Größe“, so García-Oliva. Als Beispiel nennt er Orcas, die Beute angreifen, die größer ist als sie selbst.
Die dritte Strategie: „Räuber fressen deutlich kleinere Beute, deren Größenspektrum nicht mit der eigenen Größe variiert.“ Dazu zählen Bartenwale, die unabhängig von Alter oder Körpergröße immer Krill filtern. Auch Kleinkrebse, die sich von mikroskopisch kleinen organischen Partikeln ernähren, gehören dazu. Diese Muster finden sich in allen Tiergruppen – von Quallen über Fische bis zu Säugetieren.
Große Räuber mit noch größerer Beute: Das Orca-Paradoxon im Fressverhalten
Gerade Orcas seien ein gutes Beispiel für die Lücken der bisherigen Modelle, sagt Wirtz. Sie fressen Robben, Haie oder sogar große Wale – das passt nicht zur gängigen Theorie, dass Räuber sich nur kleinere Tiere aussuchen. Die neue Herangehensweise ermögliche es, auch solche Ausnahmen mathematisch zu erfassen.
Damit könnten künftig auch Szenarien realistischer simuliert werden, in denen sich einzelne Schlüsselarten besonders stark auf das gesamte Ökosystem auswirken.
Warum manche Tiere immer gleich fressen – unabhängig von ihrer Größe
Bartenwale wiederum zeigen, wie universell bestimmte Fressmuster sind. Egal ob ein Kalb oder ein ausgewachsener Blauwal – alle filtern Krill aus dem Wasser. Diese Unabhängigkeit von der Körpergröße stellt bisherige Modelle infrage. Auch Kleinkrebse, die organische Partikel am Meeresboden verwerten, folgen diesem Schema.
Die neue Modellierung integriert beide Strategien – Jäger größerer Beute ebenso wie Filterfresser – und macht damit einen gewaltigen Schritt in der Darstellung komplexer Nahrungsnetze im Meer.
Simulationen für eine bedrohte Unterwasserwelt
Das Modell eignet sich den Forschern zufolge besonders, um Veränderungen in Meeresökosystemen vorherzusagen. Beispielsweise kann analysiert werden, wie Schutzgebiete wirken oder wie stark der Klimawandel bestimmte Lebensräume verändert.
„Solche Erkenntnisse sind für das künftige Management von Meeresschutzgebieten extrem wichtig“, betont Wirtz. Auch die Auswirkungen von Fischereiverboten ließen sich simulieren.
Ein Modell für die Zukunft: Digitale Vorhersagen für die Nahrungsnetze im Meer
Indem die Wissenschaftler die drei wichtigsten Fressmuster quantifizierten, schufen sie die Grundlage für ein belastbares, größenbasiertes Modell. Es deckt laut García-Oliva 85 bis 90 Prozent aller Räuber-Beute-Beziehungen ab.
Mit dem neuen Instrument können Wissenschaftler weltweit künftig digitale Abbilder der Ozeane entwickeln – ein Baustein für besseren Schutz der Meeresvielfalt und ein tieferes Verständnis für die Nahrungsnetze im Meer.
Kurz zusammengefasst:
- Forscher des Helmholtz-Zentrums Hereon haben ein neues Modell entwickelt, das 85 bis 90 Prozent der Räuber-Beute-Beziehungen im Meer realistisch abbildet.
- Es basiert auf drei zentralen Strategien: klassische Größenverhältnisse, das Fressen deutlich größerer Beute und das Filtern gleichbleibend kleiner Nahrung.
- Dieses Modell hilft, die Auswirkungen von Fischerei und Klimawandel auf Nahrungsnetze im Meer besser vorherzusagen – ein Fortschritt für Forschung und Meeresschutz.
Übrigens: An der Küste von Washington feiert ein rätselhafter Trend unter Orcas ein Comeback – mit Lachshüten auf dem Kopf. Wissenschaftler haben „keine Ahnung, warum sie das tun.“ Mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Hereon/iStock