Vom Schönheitsfehler zum Klimaretter: Lebende Fassade könnte so viel CO2 wie 400 Millionen Bäume speichern
Eine lebende Fassade könnte nicht nur große Mengen CO2 aus der Luft ziehen, sondern auch viele weitere Vorteile bieten.

Wären Fassaden noch schöner, wenn sie von Pilzen und Bakterien übersät wären? Zumindest wären sie dann nützlicher, sagen Forscher. © Unsplash
Lange galten Mikroorganismen auf Gebäuden als Zeichen von Verfall oder mangelnder Pflege. Sie wurden als optische Störung empfunden, manchmal auch als potenzielle Gefahr für die Bausubstanz – und meist konsequent entfernt. Doch diese Sichtweise beginnt sich zu verändern. Forscher erkennen eine neue Rolle für Mikroben im Zuge des Klimawandels. Viele von ihnen könnten aktiv zur Verbesserung des Stadtklimas beitragen. Denn einige Mikroorganismen entziehen der Luft Kohlendioxid, geben Sauerstoff ab, filtern Schadstoffe – oder stabilisieren sogar Baumaterialien. Die lebende Fassade – einst nur Vision – rückt nun in greifbare Nähe.
Klimaschutz aus der Natur
Cyanobakterien etwa gelten als effektive Kohlenstoffsenken. Durch Photosynthese binden sie CO2 und tragen so zur Senkung der Emissionen bei. Andere Mikroben bilden auf Fassaden eine schützende Schicht, die Materialverwitterung bremst, ohne in die Substanz einzudringen. Manche Pilze produzieren dabei sogar natürliche Mineralien, die mikroskopisch feine Risse schließen können. All das hat ein Umdenken angestoßen: Was wäre, wenn man diese Fähigkeiten gezielt für Architektur und Städtebau nutzen könnte?
Fassade als lebendige Haut für überhitzte Städte
Die Idee, Mikroorganismen als „lebende Haut“ in der Architektur einzusetzen, wird seit Jahren erforscht. Ihre potenzielle Wirkung ist groß: Sie könnten CO2 speichern, Luft filtern, Wasser speichern oder Gebäude auf natürliche Weise kühlen – gerade in dicht bebauten, aufgeheizten Städten ein wertvoller Beitrag.
Doch bisher überlebten viele der Organismen in der Praxis nur kurz – UV-Strahlung, Trockenheit und Wind setzten ihnen schnell zu. Nun wollen Wissenschaftler das ändern: Mit neuen Materialien, Techniken und interdisziplinären Projekten soll das mikrobiologische Leben auf der Fassade nicht länger Störfaktor, sondern klimaschützendes Element sein.
Von der Biopatina zum Zukunftsbaustoff
„Das Ansiedeln von Mikroorganismen hat bisher noch nicht geklappt“, sagt Geomikrobiologin Katja Sterflinger von der Akademie der bildenden Künste Wien laut dem Standard. Gemeinsam mit Architekten und Materialforschern untersucht sie nun, wie sich Mikroorganismen gezielt als schützende „Biopatina“ nutzen lassen – also als bewusste, funktionale Schicht auf der Gebäudeoberfläche. Der Blick auf die Fassade verändert sich grundlegend: Sie soll nicht länger lebloser Schutz, sondern lebender Teil einer klimaangepassten Stadt werden.
Selbstheilender Beton spart CO2 und verlängert die Lebensdauer von Bauwerken
Etwas weiter ist da ein anderes Projekt in den Niederlanden. Dort erproben Forscher der Technischen Universität Delft eine vielversprechende Innovation: Beton, der sich selbst reparieren kann. Möglich wird das durch Bakterien, die in winzigen Tonkapseln im Material eingeschlossen sind. Sobald Feuchtigkeit eindringt, werden die Mikroorganismen aktiv und produzieren Kalk – dieser verschließt feine Risse innerhalb weniger Wochen, ganz ohne menschliches Zutun.
2024 kam der neuartige Baustoff erstmals praktisch zum Einsatz: Beim Bau einer Eisenbahnunterführung im Ort Rijen entstand eine 25 Meter lange Tunnelwand aus selbstheilendem Beton. Die Wirkung ist messbar – und ökologisch relevant:
- 35 Prozent weniger Bewehrungsstahl waren nötig. Die sogenannte Bewehrung – Stahlstäbe, die Beton vor dem Reißen schützen – konnte in horizontaler Richtung deutlich reduziert werden. Besonders in Tunnelbauwerken senkt das Kosten und CO2-Ausstoß.
- Der Pumpenkeller wurde sechs Wochen unter Wasser gesetzt, um die Selbstheilung zu aktivieren.
Die anschließenden Labortests zeigten: Die Risse hatten sich erfolgreich verschlossen.
Der Hintergrund: Bewehrungsstahl ist teuer in der Herstellung und belastet die Umwelt. Weniger Stahl bedeutet also nicht nur geringere Baukosten, sondern auch eine bessere Klimabilanz. Deshalb sieht die Branche in dem Verfahren enormes Potenzial – nicht nur in den Niederlanden.
Zudem passt der Beton ideal zu den Zielen der niederländischen Bauindustrie:
- CO2-Ziel: Bis 2030 sollen die Emissionen um 49 Prozent gesenkt werden
- Kreislaufziel: Bis 2050 soll die Betonherstellung vollständig zirkulär funktionieren – also ohne Rohstoffverluste.
Ein Baustoff, der lebt und CO2 speichert
Auch an der ETH Zürich hat ein interdisziplinäres Team ein innovatives Baumaterial entwickelt, das mithilfe von Cyanobakterien – auch bekannt als Blaualgen – aktiv Kohlendioxid aus der Luft bindet. Die Mikroorganismen betreiben Photosynthese und lagern den Kohlenstoff nicht nur in ihrer Biomasse ein, sondern wandeln ihn auch in feste Karbonate wie Kalk um.
Eingebettet in ein druckbares Gel, wachsen die Algen monatelang weiter und machen das Material zugleich robuster. Damit könnten künftig Gebäudefassaden aktiv zum Klimaschutz beitragen. Die Vorteile spiegeln sich in den Zahlen wider:
- CO2-Bindung im Labor: 26 Milligramm CO2 pro Gramm Material (zum Vergleich: Recyclingbeton etwa 7 Milligramm).
- Dauer der CO2-Aufnahme: kontinuierlich über mehr als 400 Tage.
- Höhe der Testobjekte: rund 3 Meter, präsentiert auf der Biennale in Venedig und der Triennale in Mailand.
- CO2-Leistung pro Objekt: bis zu 18 Kilogramm pro Jahr – vergleichbar mit einer 20 Jahre alten Kiefer.
- CO2-Anteil der Baubranche in Deutschland: etwa 30 Prozent der Gesamtemissionen.

Lebende Tinte an Fassade
Das EU-Projekt „Remedy“ verfolgt dieses Prinzip weiter. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der TU Graz arbeitet an einer neuartigen Fassadenfarbe, die Mikroorganismen wie Pilze und Algen enthält. Diese „lebende Tinte“ soll Hauswände in aktive Elemente verwandeln, die nicht nur vor Verwitterung schützen, sondern auch CO2 aus der Luft binden und Schadstoffe filtern.
Die sogenannte REMEDY-Tinte lässt sich per Inkjet-Druck gezielt auf Außenflächen auftragen – von Beton bis Metall. Das Projekt, das vom European Innovation Council mit rund drei Millionen Euro gefördert wird, bringt Fachwissen aus Mikrobiologie, Strömungstechnik und Materialforschung zusammen.
Fassade speichert Wasser und kühlt bei Hitze
Auch Forscher der Universität Stuttgart haben sich mit Fassaden beschäftigt und mit HydroSKIN eine neuartige Gebäudehülle entwickelt, die Regenwasser aufnimmt, speichert und gezielt verdunsten lässt. Das textile System verwandelt Fassaden in aktive Klimaregulatoren, die bei Hitzeperioden zur Kühlung beitragen – nicht nur im Gebäude, sondern auch im umliegenden Stadtraum.

Die Erfinderin Christina Eisenbarth erklärt: Eine Fläche von 50 bis 100 Quadratmetern erreicht eine vergleichbare Kühlwirkung wie eine 50 Jahre alte Eiche. Das System kann zudem bestehende Gebäude nachträglich ausrüsten – und so zur städtischen Klimaanpassung beitragen. Wir haben ausführlich darüber berichtet.
Gebäude als urbane CO2-Speicher
Was heute noch experimentell wirkt, könnte in Zukunft fester Bestandteil nachhaltiger Architektur werden: Eine lebende Fassade, die nicht nur kühlt, sondern auch CO2 bindet und sogar Licht spendet. Forscher denken bereits über lumineszierende Mikroorganismen nach, die Gebäude nachts erleuchten könnten – als Teil eines aktiven, atmenden Stadtraums. Sollte sich die Technologie durchsetzen, würden Fassaden zu steuerbaren Bioreaktoren mit realem Klimanutzen.
Daten der EU-Umweltagentur zeigen laut dem Standard: In den nächsten 25 Jahren entstehen in Europa rund 10 Milliarden Quadratmeter neue oder sanierte Fassadenflächen. Unter günstigen Bedingungen könnten Cyanobakterien dabei:
- bis zu 1 Kilogramm CO2 pro Quadratmeter und Jahr binden
- 10 Millionen Tonnen CO2 jährlich speichern
- das leisten, was ein Wald mit 400 Millionen Bäumen auf 4.000 Quadratmeter Fläche schafft
Eine Fläche, die eineinhalbmal so groß ist wie Luxemburg – ein starkes Argument für lebende Fassaden.
Kurz zusammengefasst:
- Das Konzept „Lebende Fassade“ nutzt Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze, um CO2 zu binden, Gebäude zu kühlen, die Luft zu reinigen und sogar Straßen zu beleuchten.
- Forscher entwickeln dafür neue Materialien, darunter selbstheilenden Beton und mikrobiell aktive Fassadentinten.
- Bei konsequenter Anwendung könnten Europas Hauswände jährlich bis zu zehn Millionen Tonnen CO2 speichern – ähnlich viel wie ein Mischwald mit 400 Millionen Bäumen.
Übrigens: Nicht nur lebende Mikroorganismen könnten Fassaden verändern – auch Abfall wird zum Gestaltungselement der Zukunft. In München entsteht gerade eine Bürofassade aus recycelten Ziegeln und Plastikfliesen, die 40 Prozent CO2 einspart – mehr dazu in unserem Artikel.
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