70 Prozent weniger Insekten – selbst unberührte Ökosysteme brechen ein

Auch in ökologisch intakten Regionen schrumpfen die Insektenzahlen massiv. Eine neue Studie zeigt einen Rückgang von mehr als 70 Prozent.

Insektensterben breitet sich aus – selbst unberührte Natur betroffen

Die abgelegene Bergwiese am Molas Pass in Colorado diente Keith Sockman von der University of North Carolina als Standort für seine 20-jährige Insektenstudie. © Keith Sockman/UNC-Chapel Hill

In einer hochgelegenen Bergregion der Colorado Rockies hat der Biologe Keith Sockman über zwei Jahrzehnte hinweg fliegende Insekten gezählt – mitten in einem Gebiet ohne Straßen, Felder oder Siedlungen. Die Wiese auf 3200 Metern Höhe gilt als nahezu unberührter Naturraum, fernab direkter menschlicher Einflüsse.

Dennoch sind die Insektenzahlen dort um mehr als 70 Prozent gesunken. Seine Langzeitstudie zeigt: Das Insektensterben macht selbst vor abgelegenen Ökosystemen nicht halt – und stellt grundlegende Fragen zum Einfluss des Klimawandels.

Rückgang in der „heilen Natur“

Zwischen 2004 und 2024 wurden auf der subalpinen Wiese am Molas Pass jedes Jahr die Insekten gezählt. Der Ort liegt abgelegen, es gibt keine intensive Landnutzung, keine Industrie, keine nennenswerte Siedlung in der Nähe. Trotzdem sank die Zahl der gefangenen Insekten im Schnitt um 6,6 Prozent pro Jahr – aufsummiert entspricht das einem Rückgang von 72,4 Prozent in nur zwei Jahrzehnten.

Grundlage der Studie ist nicht nur das Fangmaterial, sondern auch 38 Jahre lückenlose Wetterdaten von einer nahegelegenen Station. Besonders auffällig: Die nächtlichen Temperaturen im Sommer stiegen im Untersuchungszeitraum um durchschnittlich 0,8 Grad Celsius pro Jahrzehnt.

Die Auswertung zeigt: Je wärmer der Sommer, desto stärker bricht die Insektenzahl im darauffolgenden Jahr ein. Die Hitze wirkt also mit Verzögerung. In besonders heißen Jahren erholen sich die Populationen nicht mehr. Das hat direkte Auswirkungen auf die Nahrungsketten – insbesondere in Höhenlagen und anderen sensiblen Ökosystemen.

Ohne Insekten gerät vieles ins Wanken

Insekten sind keine Randfiguren der Natur – sie bestäuben Nutz- und Wildpflanzen, zersetzen organisches Material und dienen vielen Tieren als wichtige Nahrungsquelle.

Studienleiter Sockman erklärt: „Insekten sind unverzichtbar für das Funktionieren von Land- und Süßwasserökosystemen.“

Landwirtschaft spürt die Folgen zuerst

Sinkende Insektenzahlen treffen direkt die landwirtschaftliche Produktion. Wildbienen, Schwebfliegen und andere Bestäuber fehlen – Obstblüten bleiben unbefruchtet.

Besonders betroffen sind dabei:

  • Apfel-, Kirsch-, Erdbeer- und Tomatenanbau
  • Getreide, das zusätzlich auf Windbestäubung setzt
  • Märkte, die auf stabile Preise und Erträge angewiesen sind

Einbruch der Artenvielfalt droht

Fliegende Insekten sind das Fundament vieler Nahrungsketten. Gehen sie zurück, geraten auch andere Arten unter Druck. Vögel finden weniger Nahrung für ihre Jungen, Amphibien verlieren Beutetiere, Fledermäuse hungern. Besonders in Gebirgsregionen mit vielen endemischen Arten wächst das Risiko. „In Gebirgen leben besonders viele spezialisierte Arten, die nur dort vorkommen – auch bei den Insekten“, warnt Sockman.

Klimawandel ist nicht die einzige Ursache

Die Ergebnisse erinnern an eine deutsche Langzeitstudie. Auch bei uns schrumpfte die Insektenbiomasse zwischen 1989 und 2016 um rund 82 Prozent – obwohl die Flächen als naturnah galten. Auch hier waren steigende Temperaturen einer der Hauptfaktoren.

Doch auch weitere Faktoren könnten den Rückgang verstärken:

  • Veränderungen in der Pflanzendecke (Sukzession)
  • Erhöhte Stickstoff- und CO2-Werte in der Luft
  • Sinkende Nährstoffqualität bei Pflanzen

Diese Effekte können den Insekten die Lebensgrundlage entziehen – selbst ohne sichtbare Eingriffe.

Kurz zusammengefasst:

  • In einem unberührten Naturraum in den Colorado Rockies sind die Insektenzahlen innerhalb von 20 Jahren um über 70 Prozent gesunken, obwohl dort keinerlei direkte menschliche Eingriffe stattfinden.
  • Das Insektensterben betrifft längst nicht mehr nur Agrarlandschaften – selbst abgelegene Ökosysteme verlieren massiv an Arten, vor allem durch steigende Temperaturen.
  • Insekten sichern Bestäubung, Nährstoffkreisläufe und Nahrungsketten – ihr Rückgang bedroht Landwirtschaft, Artenvielfalt und die Stabilität ganzer Ökosysteme.

Übrigens: Nicht nur in Colorado schrumpfen Insektenbestände dramatisch – auch in Deutschland kämpfen Forscher gegen das stille Artensterben. Wie ein Berliner Start-up mit KI, Radar und Open-Source-Technologie das Insektensterben stoppen will, mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Keith Sockman/UNC-Chapel Hill

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert