Neue Hirnkarte zeigt: Beim Denken arbeitet der ganze Kopf – und nicht nur ein Zentrum

Unser Gehirn denkt vernetzt – Entscheidungen, Reize und Bewegungen entstehen parallel in vielen Arealen.

Gehirnaktivitätskarte zeigt, wie unser Gehirn Entscheidungen trifft

Die neue Gehirnaktivitäskarte zeigt, wie 75.000 Nervenzellen im Gehirn gleichzeitig feuern: Jeder Punkt steht für eine Zelle – je aktiver sie ist, desto größer erscheint sie. © Dan Birman, International Brain Laboratory

Was passiert im Gehirn, wenn wir eine Entscheidung treffen, einen Ton hören oder eine Bewegung vorbereiten? Lange galt: Bestimmte Hirnregionen übernehmen jeweils klar definierte Aufgaben. Zwei große Studien zeichnen mit einer neuen Gehirnaktivitätskarte nun ein ganz anderes Bild: Das Gehirn arbeitet als dynamisches Netzwerk, in dem viele Bereiche gleichzeitig aktiv sind.

Ein internationales Forscherteam mit über 80 Neurowissenschaftlern – darunter das „International Brain Laboratory“ – hat dafür bei Mäusen mit sogenannten Neuropixels-Elektroden gearbeitet. Diese Technik erlaubt es, die Aktivität von Hunderttausenden Nervenzellen gleichzeitig zu messen – über viele Hirnregionen hinweg.

Die neue Gehirnaktivitätskarte: Vernetzt statt lokal

Die daraus entstandene Gehirnaktivitätskarte zeigt deutlich: Wahrnehmung, Entscheidungen, Handlungsvorbereitung und Erwartungen laufen gleichzeitig in verschiedenen Bereichen des Kortex ab – vom Sehzentrum über sensorische Areale bis zum motorischen System. Selbst bei einfachen Aufgaben wie einem Tastendruck arbeiten mehrere Hirnareale zusammen.

Das Gehirn verteilt Aufgaben also nicht an einzelne „Zuständigkeitszentren“, sondern funktioniert wie ein Netzwerk, das Informationen laufend austauscht. Besonders auffällig: Die gleiche Nervenzelle kann – je nach Kontext – unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Mal verarbeitet sie Sinneseindrücke, mal bewertet sie Situationen, mal löst sie Reaktionen aus.

Zentrale Merkmale der neuen Erkenntnisse:

  • Dezentrale Organisation: Entscheidungen entstehen verteilt, ohne einzelnes Zentrum.
  • Kontextabhängigkeit: Nervenzellen passen sich flexibel an. Sie können sensorisch, motorisch oder kognitiv aktiv sein.

Das Gehirn denkt voraus – nicht nur rückblickend

Die Studien stützen ein zentrales Modell der modernen Neurowissenschaft: das sogenannte „Predictive Coding“. Demnach arbeitet unser Gehirn nicht nur reaktiv, sondern auch vorausschauend. Es erstellt ständig Hypothesen darüber, was als Nächstes geschieht – in Gedanken, Bewegungen oder Wahrnehmungen. Stimmen diese Erwartungen mit dem tatsächlichen Input überein, spart das Gehirn Energie. Weicht der Reiz jedoch ab, kommt es zu einem „prediction error“, der das interne Modell verändert.

So funktioniert das Prinzip:

  • Das Gehirn bildet auf Basis von Erfahrung und Kontext fortlaufend Erwartungen.
  • Reale Reize werden mit diesen Erwartungen abgeglichen.
  • Bei Abweichungen passt das Gehirn seine Modelle aktiv an.

Diese Mechanik hilft zu erklären, warum uns das Ausbleiben eines erwarteten Tons erschreckt – oder warum wir blitzschnell auf unerwartete Reize reagieren.

So entstehen Störungen im Denken

Die Studien liefern Hinweise darauf, wie Störungen im Gehirn bei psychischen und neurologischen Erkrankungen entstehen. Bei Schizophrenie oder Autismus könnten eben diese Netzwerkprozesse gestört sein – etwa bei der Bildung von Erwartungen. Wenn Nervenzellen nicht mehr synchron arbeiten, treten Symptome wie Wahnvorstellungen oder sozialer Rückzug auf.

Auch für Behandlungen lassen sich daraus neue Ansätze ableiten: Wenn klar ist, wie gesunde Hirnprozesse ablaufen, lassen sich Abweichungen frühzeitig erkennen – etwa bei Epilepsie, Sprachstörungen oder nach Schlaganfällen. In Zukunft ließen sich auch Gehirn-Computer-Schnittstellen präziser entwickeln – etwa für Menschen mit Lähmungen oder im Locked-in-Syndrom.

Über 75.000 Nervenzellen werden während einer Entscheidung aktiv: Die Aktivität beginnt im visuellen Kortex und breitet sich bei zunehmender Entscheidungsfindung aus. © YouTube

Kurz zusammengefasst:

  • Das Gehirn arbeitet als Netzwerk, nicht in Einzelteilen: Neue Messmethoden zeigen, dass Denken, Entscheiden und Fühlen in vielen Hirnregionen gleichzeitig stattfindet – nicht isoliert in einzelnen Arealen.
  • Vorhersagen steuern unser Denken: Das Gehirn rechnet ständig mit dem, was als Nächstes passiert – weicht die Realität ab, muss es umlernen. Dieses Prinzip („predictive coding“) ist zentral für gesunde Informationsverarbeitung.
  • Die neue Gehirnaktivitätskarte hilft, Störungen wie Autismus oder Schizophrenie besser zu verstehen – und könnte sogar Hirn-Computer-Schnittstellen verbessern.

Übrigens: Unser Gehirn wäre ohne seine Falten kaum zu dem fähig, was uns Menschen ausmacht – doch wie entstehen diese Strukturen überhaupt? Forscher haben nun entschlüsselt, welche Zelltypen die Windungen formen und warum das auch erklärt, wieso manche Menschen anfälliger für Krankheiten wie Autismus oder Epilepsie sind. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Dan Birman, International Brain Laboratory

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