Nach Fund in der Tiefsee: Forscher schreiben den Stammbaum des Lebens um

Eine Gruppe uralter Mikroben, die in der Tiefsee entdeckt wurden, liefert vielleicht den Schlüssel zum Ursprung des Lebens auf der Erde.

Ursprung des Lebens

Forscher der ETH Zürich entdeckten ein Zellskelett, das der Schlüssel zum Ursprung des Lebens sein könnte. © Margot Riggi / Max-Planck-Institut für Biochemie

Vor zehn Jahren machten Forscher einen überraschenden Fund in der norwegischen Tiefsee: Bruchstücke aus dem Erbgut einer bislang unbekannten Gruppe von Mikroben, die die Forscher Asgard-Archaeen genannt haben. Eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich liefert neue Erkenntnisse zu diesen Einzellern, die den Schlüssel zum Ursprung des komplexen Lebens auf der Erde liefern könnten.

Die Wissenschaftler analysierten Lokiarchaeum ossiferum, eine Art der Asgard-Archaeen. Im Inneren dieser Mikroben entdeckten sie ein Zellskelett aus Proteinen, das auffällig dem Zellgerüst höherer Lebewesen ähnelt. Diese Struktur gilt als entscheidend für den Schritt zur eukaryotischen Zelle – also Zellen mit Zellkern, wie sie bei Tieren, Pflanzen und Menschen vorkommen.

Die Asgard-Archaeen, benannt nach der Heimat des vorchristlichen nordischen Pantheons, sind allem Anschein nach der „Missing Link“, also das fehlende Verbindungsstück zwischen Archaeen und Eukaryoten – jenen Lebewesen, deren Zellen über Zellkern und andere Kompartimente verfügen. Dazu gehören neben dem Menschen auch alle anderen Tiere und Pflanzen.

Zellskelett erinnert stark an moderne Zellen

Die Forscher der ETH Zürich untersuchten unter anderem das sogenannte Loki-Aktin. Dieses Protein baut fadenartige Strukturen auf und ist bereits bei vielen Asgard-Archaeen nachgewiesen worden. „Wir haben in dieser Art ein Aktin-Protein gefunden, das dem von Eukaryoten sehr ähnlich sieht – und in fast allen bisher bekannten Asgard-Archaeen vorkommt“, sagte Martin Pilhofer von der ETH Zürich. Das Aktin bildet ein stabiles Gerüst innerhalb der Mikrobenzellen und stützt deren komplexe Zellstruktur.

Florian Wollweber, Mitautor der Studie, sagt, dass sich die fadenförmigen Gerüststangen häufig in den tentakelartigen Fortsätzen der Mikroben finden. „Sie bilden somit das Skelett für die komplexe Zellarchitektur der Asgard-Archaeen“, ergänzt er. Die Forscher sehen darin einen möglichen Ursprung für die Struktur moderner Zellen.

Schon 2015 hatten Forscher erste genetische Hinweise auf Asgard-Archaeen in Sedimenten vor Norwegen entdeckt. Die Mikroben leben in extremen Umgebungen wie Brackwasser oder Tiefseeschloten. Ihre Gene zeigen eine erstaunliche Nähe zu Eukaryoten, was die bisherige Einteilung des Lebens in drei Hauptgruppen infrage stellt.

Inzwischen schlagen manche Wissenschaftler vor, die Eukaryoten als Teil der Asgard-Archaeen zu betrachten. Dann gäbe es nur noch zwei Domänen: Bakterien sowie Archaeen mitsamt der Eukaryoten.

Die ETH-Zürich zeichnet den Stammbaum des Lebens neu: mit Eukaryoten als Nachfahren der Asgard-Archaeen. (Grafik: Florian Wollweber / ETH Zürich)
Die ETH-Zürich zeichnet den Stammbaum des Lebens neu: mit Eukaryoten als Nachfahren der Asgard-Archaeen. © Florian Wollweber / ETH Zürich

Winzige Röhren mit großer Wirkung

Neben den Aktinfilamenten spielen Mikrotubuli eine entscheidende Rolle im Zellgerüst. Diese röhrenförmigen Strukturen bestehen aus Tubulin-Proteinen und übernehmen in Eukaryoten wichtige Transportaufgaben innerhalb der Zelle. Lange war unklar, woher diese Röhrchen stammen.

Die Studie geht auch auf Tubulin-ähnliche Strukturen in Lokiarchaeum ossiferum ein. Diese seien kleiner als die Mikrotubuli in höheren Lebewesen, aber in ihrem Aufbau sehr ähnlich. In Eukaryoten nutzen Motorproteine die Mikrotubuli als eine Art „Schienen“, um Substanzen zu transportieren. Solche Motoren fanden die ETH-Forscher in den Asgard-Archaeen bisher nicht, dennoch vermuten sie ähnliche Transportfunktionen. Jingwei Xu, Erstautor der Studie, stellte die Tubulin-Proteine in Insektenzellen her, um ihre Struktur besser zu verstehen.

Nur wenige Vertreter der Asgard-Archaeen tragen diese Mikrotubuli. Warum das so ist, wissen die Forscher noch nicht. Auch bleibt unklar, welche Rolle sie im Stoffwechsel der Mikroben spielen. Die Kombination aus Mikrobiologie, Biochemie und Strukturbiologie ermöglichte jedoch völlig neue Einblicke.

Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg zahlt sich aus

„Ohne diesen interdisziplinären Ansatz wären wir nie so weit gekommen“, sagte Martin Pilhofer. Gemeinsam mit Teams aus Zellbiologie und Strukturbiologie arbeitete die ETH Zürich an der Aufklärung dieser uralten Zellstrukturen. Die Erkenntnisse könnten helfen, eine der wichtigsten offenen Fragen der Biologie zu klären: Wie entstanden die ersten komplexen Zellen?

Die Forscher vermuten, dass sich einst ein Asgard-Archaeon ein Bakterium einverleibte. Dieses entwickelte sich später zum Mitochondrium – dem „Kraftwerk“ heutiger Zellen. Die Fähigkeit, Fortsätze zu bilden, könnte dabei eine zentrale Rolle gespielt haben.

„Das besondere Zellskelett stand wahrscheinlich am Anfang dieser Entwicklung. Es könnte den Asgard-Archaeen ermöglicht haben, Fortsätze zu bilden, die ihnen dabei geholfen haben dürften, ein Bakterium zu ergreifen und es sich einzuverleiben.“

Martin Pilhofer, ETH Zürich

Das Forschungsteam plant, die Funktion von Aktinfilamenten und Tubulinröhrchen weiter zu erforschen. Außerdem wollen sie spezielle Proteine auf der Zelloberfläche identifizieren. Mit passenden Antikörpern könnten sie künftig gezielt nach Asgard-Archaeen suchen.

„Bezüglich der Asgard-Archaeen bestehen noch viele offene Fragen, gerade was ihre Verwandtschaft mit Eukaryoten und ihre besondere Zellbiologie angeht“, sagte Pilhofer. Die Forscher sehen in den Mikroben dennoch großes Potenzial, um den Ursprung des Lebens besser zu verstehen.

Kurz zusammengefasst:

  • Asgard-Archaeen sind uralte Mikroben, die Bausteine komplexer Zellen wie bei Tieren und Pflanzen besitzen.
  • Forscher der ETH Zürich entdeckten bei ihnen ein Zellskelett mit Aktin- und Tubulin-Proteinen, die der Schlüssel zum Ursprung des Lebens und zur Entwicklung eukaryotischer Zellen sein könnten.
  • Da Eukaryoten von Archaeen abstammen könnten, hinterfragen Wissenschaftler die Einteilung des Lebens auf dem Planeten in die drei Domänen Archaeen, Eukaryoten und Bakterien.

Bild: © Margot Riggi / Max-Planck-Institut für Biochemie

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