Physik-Unterricht jahrzehntelang falsch: Forscher finden den Grund, warum wir auf Eis ausrutschen

Physiker entdeckten den wahren Grund für das Rutschen auf Eis – nicht Druckschmelzung, sondern rollende Wassermoleküle.

Forscher finden den Grund, warum wir auf Eis ausrutschen

Alte Physik-Theorie widerlegt: Nicht Druck oder Reibung lassen uns auf Eis ausrutschen – sondern die Moleküle selbst, die den glatten Film erzeugen. © DALL-E

Wer auf dem Weg zur Arbeit schon einmal unsanft Bekanntschaft mit einer vereisten Straße gemacht hat, kennt das Problem: Auf Eis ausrutschen geht blitzschnell und ist oft schmerzhaft. Seit mehr als hundert Jahren lernt man in der Schule, dass Druck und Reibung dafür sorgen, dass ein dünner Wasserfilm entsteht, auf dem man ins Rutschen kommt. Neueste Forschung zeigt nun: Diese Erklärung ist falsch.

Alte Theorie hält der Realität nicht stand

Die klassische Lehrmeinung geht auf den Bruder von Lord Kelvin zurück. James Thompson war im 19. Jahrhundert überzeugt, dass Druck von Schuhsohlen oder Skikufen und die dabei entstehende Reibungswärme ausreichen, um Eis schmelzen zu lassen. Zahlreiche Lehrbücher haben dieses Prinzip übernommen.

Doch ein Team um den Materialforscher Martin Müser von der Universität des Saarlandes konnte das Gegenteil beweisen. „Das stimmt beides nicht, weder Druck noch Reibung haben einen großen Effekt auf die Bildung eines dünnen Flüssigkeitsfilms auf dem Eis“, erklärt Müser. Mit aufwändigen Computersimulationen konnten die Forscher zeigen, dass die entscheidende Rolle die Dipole der Wassermoleküle spielen.

Moleküle sorgen für Unordnung im Eis

In einem festen Eiskristall sind die Wassermoleküle fein säuberlich geordnet. Treffen jedoch Schuhsohlen oder Skier auf die Oberfläche, setzen deren Moleküle die Eisdipole unter Spannung. Die strikte Ordnung bricht auf, es bildet sich ein ungeordneter, amorpher Bereich. Genau hier entsteht der hauchdünne Film, der so rutschig ist.

„Sogar die glatteste denkbare, nicht übereinstimmende Eis-Eis-Grenzfläche bildet lokale, kaltverschweißte Stellen, an denen seitliche Verschiebung eine Amorphisierung auslöst – und zwar ohne Wärme“, schreiben die Wissenschaftler. Entscheidend ist also nicht Wärme oder Druck, sondern eine Art Kaltverflüssigung durch mechanische Verschiebung.

Auf Eis ausrutschen – auch bei zweistelligen Minusgraden möglich

Die Vorstellung, dass es bei strengem Frost gar keinen Schmierfilm mehr gibt, konnten die Forscher ebenfalls widerlegen. Selbst bei –40 °C entsteht immer noch eine dünne Schicht. Sie verflüssigt sich jedoch viel langsamer und wirkt wie hochzähflüssiger Honig.

„Die kältesten Eiskristalle amorphisieren am schnellsten … Skifahren bei niedrigen Temperaturen ist deshalb schwierig, weil amorphes Eis sehr zähflüssig ist – und nicht, weil es keinen Schmelzfilm gäbe“, so Müser. Darum klappt Skifahren bei sehr kaltem Wetter schlechter: Der Film ist zwar da, aber er ist zu dickflüssig, um den Ski schnell gleiten zu lassen.

Zahlen machen die Unterschiede deutlich

In den Simulationen ergab sich ein klares Bild:

  • Bereits bei –10 °C entstehen normal messbare Flüssigkeitsschichten
  • Erwärmung durch Reibung konnte selbst bei –7 °C und einer Geschwindigkeit von 1 m/s nicht nachgewiesen werden
  • Die Härte von Eis liegt in diesem Temperaturbereich bei etwa 10 Megapascal
  • Bei Simulationen hielten die Kristalle Belastungen von bis zu 300 Megapascal stand, bevor sie amorphisieren – also in Unordnung zerfallen

Forschung könnte Wintersport verändern

Die Ergebnisse haben Folgen für die Sportindustrie. Skibeläge oder Schlittschuhkufen ließen sich künftig gezielt so beschichten, dass sie die Wechselwirkung mit dem Eis verstärken oder mindern. Auf diese Weise könnten Sportler mehr Geschwindigkeit herausholen oder umgekehrt mehr Halt bekommen. Auch bei Autoreifen sind neue Möglichkeiten denkbar, denn hydrophobe Materialien sorgen nachweislich für weniger gefährliche Schmierfilme.

Die klassische Streusalz-Theorie erhält mit den neuen Erkenntnissen eine zusätzliche Dimension. Salz schwächt nicht nur die Struktur, indem es das Schmelzpunktgefälle ausnutzt. Es greift zugleich in die Kristallordnung ein und erleichtert so die Bildung der rutschigen Schicht. Das erklärt, warum bestimmte Enteisungsmittel besser wirken als andere.

Lehrbücher müssen umgeschrieben werden

„Druckschmelzen würde eine extrem kleine tatsächliche Kontaktfläche erfordern, um Skifahren bei −20 °C zu erklären“, heißt es in der Veröffentlichung der Wissenschaftler. Mit anderen Worten: Der Druck einer Skikante reicht niemals aus, um unter solchen Bedingungen Wasser entstehen zu lassen. Damit muss ein jahrzehntealtes Lehrbuchwissen revidiert werden.

Für Schulen bedeutet das: Der Physikunterricht wird sich ändern. Gelernt haben Generationen, dass Reibungshitze und Druck der Schlüssel sind. Tatsächlich sorgt die mikroskopische Unordnung für den Schmierfilm, der Menschen auf vereisten Gehwegen zu Fall bringt.

Kurz zusammengefasst:

  • Nicht Druckschmelzung oder Reibungshitze verursachen das Rutschen auf Eis, sondern die mechanische Störung der Eiskristallordnung durch Kontakt mit Schuhsohlen oder Skiern.
  • Forscher der Universität des Saarlandes bewiesen durch Computersimulationen, dass die Dipole der Wassermoleküle unter mechanischer Spannung eine ungeordnete, amorphe Schicht bilden – den rutschigen Film.
  • Diese Erkenntnisse erklären, warum Skifahren auch bei –40°C möglich ist (der Film wird nur zähflüssiger) und eröffnen neue Möglichkeiten für bessere Skibeläge, Autoreifen und Enteisungsmittel.

Übrigens: Schon kleinste Veränderungen in der Kristallstruktur können Eis instabil machen. Genau das zeigt sich nun auch an Grönlands Gletschern, die durch Schmelzwasser zunehmend ins Rutschen geraten. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © DALL-E

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