Erinnerung ist kein Zufall: Was das Gehirn braucht, um Erlebtes abzuspeichern

Schon kleine Verzögerungen zwischen Bild und Ton stören Erinnerungen: Das Gehirn speichert Erlebtes nur, wenn die Sinneseindrücke perfekt zusammenpassen.

Das Timing entscheidet: Wie das Gehirn Erinnerungen speichert.

Ob im Alltag oder bei Online-Calls – vorrangig synchron eintreffende Bild- und Tonreize ermöglichen dem Gehirn, Erinnerungen sicher zu speichern. © Pexels

Warum erinnern wir uns an manche Gespräche, als wären sie gestern gewesen – und andere sind wie ausgelöscht? Neue Forschung der University of Liverpool zeigt: Entscheidend für starke Erinnerungen ist nicht nur, was wir erleben, sondern die Aktivität im Gehirn, wenn Ton und Bild synchron eintreffen. Wer sich später an eine Stimme erinnert, verbindet automatisch das Gehörte mit dem passenden Gesichtsausdruck, aber nur, wenn beide Sinne im selben Moment angesprochen wurden.

Die Forscher wollten verstehen, wie audiovisuelle Erinnerungen entstehen, also Situationen, in denen Geräusche und Bilder gemeinsam im Gedächtnis landen, etwa wenn jemand spricht und dabei lacht. Dafür zeigten sie Versuchspersonen kurze Videos von echten Interviews. Bei manchen Clips liefen Lippenbewegung und Ton synchron. Bei anderen Clips wurde der Ton künstlich verzögert.

Das richtige Timing verstärkt Erinnerungen

Das Ergebnis: Liefen Ton und Bild genau gleichzeitig, arbeiteten zwei Hirnregionen besonders aktiv zusammen, sichtbar durch sogenannte Theta-Wellen. Diese rhythmischen Signale traten sowohl beim Ansehen der Clips als auch später beim Erinnern erneut auf.

War der Ton dagegen nur leicht verschoben, blieben die Hirnwellen schwächer und die Erinnerung verblasste schneller. Die Betroffenen konnten sich weniger präzise an die Szenen erinnern. Schon ein kleiner zeitlicher Versatz genügte, um die Verknüpfung im Kopf zu stören.

Gehirn braucht Gleichklang beider Sinne

Emmanuel Biau, Leiter der Studie, sagt: „Wenn akustische und visuelle Spracheingaben gleichzeitig im Gehirn ankommen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie gemeinsam gespeichert werden, weil sie in die gleiche Phase der neuronalen Aktivität fallen.“ Bei asynchronen Reizen sei diese Kopplung kaum möglich.

Die Forscher vermuten: Gerade in Alltagssituationen, in denen viele Reize gleichzeitig einströmen, hilft dieser Gleichklang dem Gehirn, Wichtiges herauszufiltern und dauerhaft zu speichern. Der Schlüssel dafür scheint ein bestimmter Takt im Gehirn zu sein, die Theta-Oszillationen.

Die Hirnwellen erkennen, was zusammengehört

Um diese Prozesse sichtbar zu machen, nutzte das Team eine spezielle Methode: die Magnetenzephalographie. Sie misst Hirnaktivität millisekundengenau. Dabei zeigte sich: Je synchroner Ton und Lippenbewegung, desto stärker die Oszillationen im Neokortex und Hippocampus, zwei Regionen, die maßgeblich an Gedächtnisbildung beteiligt sind.

Wurden Ton und Bild hingegen bewusst entkoppelt, gerieten diese Hirnrhythmen aus dem Takt. Und genau das hatte Folgen: Die Erinnerungen ließen sich später nicht mehr sicher abrufen.

Auch das Erinnern folgt dem inneren Takt

Die Studie zeigt: Der Hippocampus speichert Informationen besser, wenn sie in der richtigen Phase der Hirnwellen eintreffen. Diese sogenannte phasenmodulierte Plastizität sorgt dafür, dass unser Gehirn komplexe Sinneseindrücke wie Sprache, Mimik und Geräusche miteinander verknüpfen kann, aber nur, wenn der Takt stimmt.

Biau erklärt: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Thetawellen beim Verarbeiten und Wiedererinnern multisensorischer Eindrücke eine entscheidende Rolle spielen.“ Diese Hirnwellen helfen also dabei, das Puzzle aus Hören und Sehen zu einem stimmigen Ganzen zu formen.

Kein Zufall: Gehirnaktivität verstehen und Erinnerung gezielt stärken

Die Ergebnisse werfen auch eine praktische Frage auf: Wie beeinflusst unsere Alltagswelt das Erinnerungsvermögen, etwa durch schlecht synchronisierte Videoanrufe, Verzögerungen beim Fernsehen oder schlechte Tonqualität in Online-Meetings? Denn selbst kleine zeitliche Verschiebungen könnten dafür sorgen, dass wichtige Inhalte schlechter im Gedächtnis haften bleiben, etwa in der Schule, im Studium oder beim Lernen im Beruf. Laut der Studie kann eine präzise Abstimmung von Bild und Ton eine einfache, aber wirkungsvolle Methode sein, um Lernprozesse oder Therapien zu verbessern. Besonders bei Menschen mit Gedächtnisstörungen könnte das neue Wege eröffnen.

Wie stabil solche Erinnerungen wirklich bleiben und ob man durch gezieltes Training diesen Mechanismus bewusst stärken kann, wollen die Forscher in künftigen Studien herausfinden. Schon jetzt aber zeigt sich: Erinnerungen sind kein Zufallsprodukt. Sie folgen dem Takt unserer Sinne – und dem Rhythmus im Kopf.

Kurz zusammengefasst:

  • Das Gehirn speichert Erinnerungen besser, wenn Ton und Bild beim Erleben exakt gleichzeitig ankommen.
  • Bei asynchronen Reizen schwächen sich die Hirnwellen im Hippocampus – und das Erinnern fällt schwerer.
  • Theta-Oszillationen spielen eine zentrale Rolle bei der Verknüpfung von Sinneseindrücken im Gedächtnis.

Übrigens: Auch im Schlaf sortiert das Gehirn Erinnerungen, verändert ihre Struktur und speichert sie dauerhaft ab. Wie das genau funktioniert, zeigt eine neue Studie. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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