Pestizide, Plastik, Zusatzstoffe: Über 160 Alltagschemikalien greifen unsere guten Darmbakterien an

Alltägliche Chemikalien aus Lebensmitteln und Plastik bringen den Darm aus dem Gleichgewicht und schwächen das Mikrobiom.

Traktor versprüht Pestizide auf einem Feld

Forscher der University of Cambridge haben entdeckt, dass Pestizide und andere alltägliche Chemikalien giftig auf nützliche Darmbakterien wirken und so das empfindliche Gleichgewicht im Körper stören. © Unsplash

Ob beim Zähneputzen, Essen oder Trinken – mit Chemikalien kommt jeder Mensch täglich in Kontakt. Sie stecken in Wasserflaschen, Shampoos, Reinigern, Verpackungen und Lebensmitteln. Viele gelten als harmlos. Doch eine neue Untersuchung zeigt: Einige dieser Chemikalien wirken im Körper anders als gedacht – und treffen ausgerechnet den Darm, das Zentrum unserer Gesundheit.

Ein Forschungsteam der University of Cambridge hat über 1.000 gängige Alltags- und Industriechemikalien getestet. 168 Stoffe störten das Wachstum wichtiger Darmbakterien, die Verdauung, Immunsystem und Stoffwechsel steuern. Manche Mikroben reagierten sogar mit Resistenz – sie wurden unempfindlich gegenüber Antibiotika.

Alltagschemikalien wirken stärker auf Darmbakterien als gedacht

Für ihre Analyse prüften die Wissenschaftler 1.076 Chemikalien aus Bereichen wie Pestiziden, Flammschutzmitteln oder Kunststoffzusätzen an 22 Arten von Darmbakterien. Diese Arten gehören zu den rund 4.500 Bakterienstämmen, die in einem gesunden Darm vorkommen und dort eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen.

Das Team fand heraus, dass etwa 30 Prozent der getesteten Fungizide und Industriechemikalien antibakterielle Eigenschaften zeigten – obwohl sie eigentlich nur Insekten oder Pilze treffen sollten. Besonders stark wirkten das Tierarzneimittel Closantel, der Kunststoffzusatz Tetrabrombisphenol A (TBBPA) und das Insektizid Chlordecon.

Dr. Indra Roux, Erstautorin der Studie, erklärt: „Wir waren überrascht, dass viele Chemikalien, die eigentlich nur auf bestimmte Zielorganismen wirken sollten, auch Darmbakterien beeinflussen. Einige dieser Stoffe galten bislang als biologisch unbedenklich – doch das stimmt offenbar nicht.“

Diese Substanzen bremsen das Wachstum nützlicher Mikroben und stören das Gleichgewicht des Mikrobioms. Gerät dieses System aus dem Takt, kann das weitreichende Folgen haben – von Verdauungsstörungen über eine geschwächte Immunabwehr bis hin zu Stoffwechselproblemen.

Chemikalien im Darm können Resistenzen begünstigen

Einige Darmbakterien passten sich den Schadstoffen an und reagierten danach weniger empfindlich auf Antibiotika. In Versuchen mit Parabacteroides merdae stieg die Resistenz gegen das häufig verwendete Medikament Ciprofloxacin auf das 16-Fache.

Die Wissenschaftler fanden zudem heraus, dass die Bakterien dabei Gene aktivierten, die sogenannte Efflux-Pumpen steuern. Diese Pumpen schleusen schädliche Stoffe aus der Zelle – derselbe Mechanismus, der auch bei Antibiotikaresistenzen aktiv ist. Die Experten warnen:

Resistenz gegen Umweltchemikalien kann zu Kreuzresistenz gegenüber Antibiotika führen.

Belastung im Alltag ist wahrscheinlicher als gedacht

Laut den Forschern gelangen viele dieser Stoffe täglich über Nahrung, Trinkwasser oder Verpackungen in den Körper. In den USA wurden bei mehr als 95 Prozent der Bevölkerung sogenannte PFAS-Chemikalien im Blut nachgewiesen. Auch in Europa fanden Studien Pestizidrückstände wie Cypermethrin oder Glyphosat in bis zu 96 Prozent der Urinproben.

Die Cambridge-Forscher gehen davon aus, dass der menschliche Darm regelmäßig Kontakt mit solchen Substanzen hat. Die im Labor getesteten Konzentrationen lagen bei 20 Mikromol pro Liter – ein Wert, der realen Belastungen im menschlichen Blut entspricht. „Wir wissen noch zu wenig darüber, wie Umweltchemikalien im Körper wirken“, so Professor Kiran Patil, Leiter der Studie.

KI-Modell soll gefährliche Stoffe früh erkennen

Um Risiken künftig schneller zu erkennen, entwickelte das Forschungsteam ein KI-Modell, das vorhersagen kann, ob neue Chemikalien schädlich für Darmbakterien sind. Das System erreichte eine Trefferquote von 77 Prozent. Ziel sei es, Chemikalien künftig „safe by design“ zu entwickeln – also so, dass sie keine negativen Auswirkungen auf das Mikrobiom haben.

„Sicherheitsprüfungen für neue Chemikalien müssen künftig auch die Wirkung auf Darmbakterien einbeziehen. Diese Mikroben sind ein zentraler Teil unserer Gesundheit“, sagt Dr. Stephan Kamrad von der University of Cambridge. Bisher bewerten Zulassungsverfahren nur, ob ein Stoff für Menschen oder Tiere direkt giftig ist – die Wechselwirkung mit Mikroorganismen bleibt unberücksichtigt.

Kurz zusammengefasst:

  • Forscher der University of Cambridge fanden heraus, dass 168 von 1.076 getesteten Chemikalien das Wachstum nützlicher Darmbakterien hemmen und so das Gleichgewicht im Mikrobiom stören können.
  • Einige dieser Stoffe fördern sogar Resistenzen gegen Antibiotika, weil Bakterien Abwehrmechanismen entwickeln, die auch Medikamente unwirksam machen können.
  • Da viele dieser Chemikalien in Lebensmitteln, Wasser oder Verpackungen vorkommen, empfehlen die Wissenschaftler, chemische Sicherheitsprüfungen künftig auch auf ihre Wirkung auf den Darm auszuweiten.

Übrigens: Auch der Darm altert und das früher, als viele denken. Wissenschaftler aus Jena und Turin haben entdeckt, warum manche Darmbereiche schneller altern und welche Zellprozesse diesen Verfall antreiben. Mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Unsplash

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