Wenn Routinen zum Zwang werden – Immer mehr Erwachsene fragen sich, ob sie Autismus haben
Immer mehr Erwachsene erfahren spät von ihrem Autismus. Besonders Frauen bleiben oft unerkannt. Lange Wartezeiten machen Diagnosen schwer.
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Eine Frau faltet T-Shirts präzise nach Farben sortiert – für manche eine harmlose Gewohnheit, für andere ein Hinweis auf tief verwurzelte Routinen. © Pexels
Natasha Nelson, eine 35-jährige Unternehmerin aus Georgia, spürte ihr Leben lang, dass sie irgendwie anders war. Sie verstand soziale Normen nicht intuitiv: Warum sprechen Menschen bei ersten Begegnungen lieber über das Wetter als über ihre tiefsten Gedanken? Warum legen so viele Wert darauf, jeden Morgen ihr Bett zu machen? Erst als Erwachsene fand sie eine Antwort: eine Autismus-Diagnose. Ihre jüngste Tochter erhielt die Diagnose kurz vor ihr, wie AP berichtet.
„Wenn sich dein Leben immer chaotisch angefühlt hat, du dich nie wirklich wohlgefühlt hast und nur irgendwie von einem Tag zum nächsten überlebst – was hast du zu verlieren?“, sagt Nelson. Sie ermutigt andere, sich untersuchen zu lassen.
Elon Musk, einer der bekanntesten Autisten der Welt, sprach vor wenigen Jahren im Fernsehen offen über seine Diagnose. Er hat eine milde Form des Asperger-Syndroms, eine Variante des Autismus-Spektrums. Soziale Interaktionen seien für ihn oft eine Herausforderung, sagte er. Er nehme emotionale Signale nicht intuitiv wahr, sondern analysiere Verhaltensmuster, um zwischenmenschliche Dynamiken zu verstehen.
Autismus-Diagnosen boomen – Viele Erwachsene hinterfragen sich selbst
Die Zahl der Autismus-Diagnosen bei Erwachsenen steigt rasant. Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt: Zwischen 2011 und 2022 nahmen die Diagnosen bei 26- bis 34-Jährigen um 452 Prozent zu. Viele werden erst durch die Diagnose ihrer eigenen Kinder oder durch Beiträge in sozialen Medien darauf aufmerksam.
Auch in Deutschland gibt es einen deutlichen Anstieg. Laut einer Analyse der hkk Krankenkasse hat sich die Zahl der Betroffenen in den letzten zehn Jahren verdoppelt – von 0,4 Prozent im Jahr 2013 auf 0,8 Prozent im Jahr 2022. Dabei wird Autismus bei Männern doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Frauen, was auf eine mögliche Unterdiagnose bei Frauen hinweist.
Dr. Stefan Trapp, Kinder- und Jugendarzt sowie Landesvorsitzender des Bremer Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, erklärt gemäß der hkk-Studie, dass betroffene Mädchen stärkere psychiatrische Begleiterkrankungen aufweisen müssen, um eine ASS-Diagnose (Autismus-Spektrum-Störungen) zu erhalten: „Vermutlich können sie soziale Beeinträchtigungen wegen unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen teils besser kompensieren als ihre gleich stark betroffenen männlichen Altersgenossen.“
Woran lässt sich Autismus erkennen?
Autismus ist ein Spektrum, und die Symptome sind von Mensch zu Mensch verschieden. Viele davon kennen auch Menschen ohne Autismus: feste Routinen, tiefes Eintauchen in Interessengebiete, Schwierigkeiten mit Smalltalk. Entscheidend für eine Diagnose ist jedoch, dass diese Merkmale den Alltag deutlich beeinträchtigen.
„Wir alle haben unsere Routinen. Aber nur weil jemand gerne eine feste Struktur hat, heißt das nicht, dass er autistisch ist“, erklärt Dr. Arthur Westover vom University of Texas Southwestern Medical Center. „Es geht deutlich tiefer.“
In Deutschland geht man laut Autismus verstehen e.V. davon aus, dass etwa 1 Prozent der Bevölkerung im Autismus-Spektrum ist – das entspricht ungefähr 1 von 100 Menschen. Je nach Ausprägung gibt es gemäß dem Autismus Deutschland e.V. große Unterschiede:
- Alle Autismus-Spektrum-Störungen: 6-7 pro 1000 Menschen
- Frühkindlicher Autismus: 1,3-2,2 pro 1000 Menschen
- Asperger-Autismus: 1-3 pro 1000 Menschen
Wenn Routinen zum Zwang werden
Russell Lehmann, 34, erhielt seine Diagnose vor mehr als 20 Jahren. Heute ist er Motivationsredner. Er beschreibt seine Rituale als zugleich beruhigend und belastend. Er kauft immer die gleichen Lebensmittel, isst täglich dasselbe. Das gibt ihm Sicherheit. Doch wenn er sein tägliches Workout ausfallen lässt, fühlt er sich als Versager. „Kein Fitnessstudio, kein Tag“, sagt er gegenüber AP. „Meine Routine ist ein existenzieller Druck. Ich weiß jeden Abend, dass ich sie am nächsten Tag wieder durchziehen muss, auch wenn ich sie hasse.“
Warum eine Diagnose so schwierig ist
Obwohl Online-Selbsttests erste Hinweise geben können, ist eine professionelle Diagnose komplex. In Deutschland fehlen Spezialisten für Autismus im Erwachsenenalter. Laut Autismus Deutschland e.V. müssen Betroffene mit Wartezeiten von 1 bis 2 Jahren rechnen, während viele Diagnosestellen ihre Wartelisten bereits geschlossen haben. Besonders für hochfunktionale Formen des Autismus gibt es nur wenige Fachärzte mit entsprechender Spezialisierung.
Zusätzlich entstehen häufig hohe Kosten: Diagnosen werden oft als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) angeboten und müssen privat gezahlt werden. In den USA musste Natasha Nelson drei Jahre auf ihre Diagnose warten und sie musste für diese Gewissheit umgerechnet über 2.800 Euro aus der eigenen Tasche zahlen.
Ein weiteres Problem: Autismus überschneidet sich oft mit anderen Störungen wie ADHS oder Zwangsstörungen. Dr. Whitney Ence von der University of California San Francisco erklärt: „Viele Erwachsene haben gelernt, Symptome zu verstecken. Sie wissen genau, was gesellschaftlich akzeptiert ist, und vermeiden auffälliges Verhalten öffentlich.“
Wie funktioniert die Diagnose?
Autismus kann nicht mit einem Bluttest oder Gehirnscan nachgewiesen werden. Diagnostiker verlassen sich auf standardisierte Tests und Gespräche mit Betroffenen – oft auch mit Menschen, die sie seit der Kindheit kennen.
Wer eine Diagnose in Erwägung zieht, sollte sich vorab einige Fragen stellen: Warum möchte ich eine Diagnose? Welche Unterstützung erhoffe ich mir? Gibt es Hilfen, die ich ohne offizielle Diagnose nicht bekomme? Psychologin Ence warnt: Viele müssen sich auf lange Wartezeiten einstellen.
Die Diagnose kann das Leben verändern
Trotz aller Herausforderungen empfinden viele Betroffene eine späte Autismus-Diagnose als Erleichterung. Sie erklärt nicht nur jahrzehntelange Unsicherheiten, sondern kann auch den Zugang zu Unterstützung ermöglichen. Wer sich in diesen Beschreibungen wiedererkennt, kann den ersten Schritt gehen: Informationen sammeln, Spezialisten suchen und sich selbst ernst nehmen.
Kurz zusammengefasst:
- Immer mehr Erwachsene werden mit Autismus diagnostiziert, doch viele Betroffene, insbesondere Frauen, bleiben unerkannt, da sie ihre Symptome oft unbewusst anpassen und überdecken.
- In Deutschland gibt es zu wenige Spezialisten. Lange Wartezeiten und hohe Kosten machen es schwer, eine Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter zu bekommen.
- Wer endlich eine Diagnose erhält, fühlt oft große Erleichterung, weil vieles im Leben plötzlich Sinn ergibt – doch der Weg dorthin ist oft lang und mühsam.
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