Der Darm vergisst nicht: Medikamente verändern unser Mikrobiom – und die Folgen halten jahrelang an
Medikamente beeinflussen die Darmflora weit über die Einnahme hinaus: Viele Präparate hinterlassen nachweisbare Spuren, selbst nach Jahren.

Verschreibungspflichtige Medikamente hinterlassen dauerhafte Spuren in der Darmgesundheit. © Pexels
Ein Glas Wein, eine üppige Mahlzeit oder Stress im Alltag – all das verändert den Darm für kurze Zeit. Doch viel stärkere Spuren hinterlassen Medikamente. Selbst wenn sie längst abgesetzt wurden, beeinflussen sie die Bakterienwelt im Darm noch nach Jahren. Diese unsichtbaren Spuren entscheiden oft mit, ob jemand anfälliger für Infekte wird, unter Verdauungsproblemen leidet oder Medikamente unterschiedlich verträgt.
Forscher der Universität Tartu werteten in einer Studie Daten von 2.509 Erwachsenen aus. Die Teilnehmer waren zwischen 23 und 89 Jahre alt, im Schnitt 50 Jahre, rund 70 Prozent davon Frauen. Sie gaben Stuhlproben ab, deren Zusammensetzung mit elektronischen Verschreibungsdaten verglichen wurden.
Bei einer Untergruppe von 328 Menschen folgte nach gut vier Jahren eine zweite Probe. So konnten die Forscher verfolgen, wie sich das Mikrobiom über längere Zeit verändert. Das Ergebnis war eindeutig: Fast 90 Prozent der getesteten Medikamente beeinflussten die Zusammensetzung der Darmflora. Bei rund 42 Prozent der Präparate blieben die Effekte auch Jahre nach der letzten Einnahme bestehen.
Medikamente gegen Angststörungen greifen das Mikrobiom massiv an
Besonders überraschend: Medikamente gegen Angststörungen wie Diazepam oder Alprazolam wirkten stärker und nachhaltiger auf das Mikrobiom als viele Antibiotika. „Bemerkenswert: Benzodiazepin-Derivate zeigen einen noch breiteren und länger anhaltenden Effekt auf das Mikrobiom als viele Antibiotikaklassen“, sagt Studienleiter Oliver Aasmets.
Auch andere gängige Arzneien wie Betablocker, Protonenpumpenhemmer gegen Magenbeschwerden und Antidepressiva veränderten die Bakterienvielfalt im Darm deutlich. Selbst Jahre nach Absetzen dieser Mittel fanden die Forscher noch erkennbare Spuren in den Proben.
Mehr Medikamente – größere Veränderungen
Die Auswertung ergab zudem: Je mehr Medikamente jemand im Laufe der Zeit einnahm, desto stärker verschob sich die Zusammensetzung der Darmflora. Bei Teilnehmern, die im Durchschnitt drei Präparate gleichzeitig nutzten, waren die Unterschiede am größten.
Damit waren die Folgen der Medikamentenhistorie sogar stärker als die von Lebensstilfaktoren wie Ernährung oder bekannten Vorerkrankungen.
Die wichtigsten Zahlen im Überblick:
- 2.509 Erwachsene nahmen teil, davon 70 Prozent Frauen, Durchschnittsalter 50 Jahre
- 328 Personen wurden nach 4,4 Jahren erneut untersucht
- 186 Medikamente wurden analysiert
- 167 davon (89,8 Prozent) zeigten Einfluss auf das Mikrobiom
- 78 (41,9 Prozent) hatten Langzeiteffekte über mehrere Jahre hinweg
Medikamente hinterlassen Langzeiteffekte im Mikrobiom
Für die Wissenschaft sind die Ergebnisse ein Weckruf. Bisher konzentrierten sich viele Analysen auf aktuelle Medikamente, um Zusammenhänge zwischen Bakterien und Krankheiten zu erklären. Nun zeigt sich: Die Vergangenheit zählt mindestens ebenso stark.
„Die Wirkung auf das Mikrobiom ist noch Jahre nach der letzten Einnahme eines Medikaments nachweisbar“, erklärt Aasmets. Seine Kollegin Elin Org ergänzt: „Die langfristige Medikamentengeschichte muss unbedingt berücksichtigt werden, wenn Zusammenhänge zwischen Krankheiten und Mikrobiom untersucht werden.“ Wer künftig also Studien zu Diabetes, Adipositas oder psychischen Erkrankungen durchführt, muss auch alte Arznei-Rezepte in die Auswertung einbeziehen.
Für Patienten bedeutet das: Der Darm vergisst nicht. Ob Beruhigungsmittel, Magenschutz oder Antidepressiva – viele Medikamente hinterlassen Spuren, die das Gleichgewicht der Darmbakterien dauerhaft verschieben können.
Kurz zusammengefasst:
- Medikamente können das Mikrobiom im Darm nicht nur während der Einnahme, sondern oft noch Jahre danach verändern – auch wenn sie längst abgesetzt wurden.
- Eine Studie der Universität Tartu mit 2.509 Erwachsenen zeigt: Fast 90 Prozent der getesteten Präparate beeinflussten die Darmflora, bei rund 42 Prozent hielten die Veränderungen langfristig an.
- Besonders auffällig wirkten Benzodiazepine, aber auch gängige Arzneien wie Betablocker, Antidepressiva und Magenschutzmittel hinterließen deutliche Spuren.
Übrigens: Nicht nur Medikamente prägen die Bakterienwelt im Darm – auch Ernährung, Bewegung und Stress entscheiden mit, wie viel Fett sich am Bauch ansammelt. Neue Daten zeigen, wie eng Mikrobiom und Bauchfett verbunden sind – mehr dazu in unserem Artikel.
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