Starke Jungs, weinende Mädchen – Kinderbücher zementieren Klischees, auch heute noch

Zwischen Tränen und Tapferkeit: Die Darstellung von Schmerz ist in Kinderbüchern oft an Geschlechterrollen geknüpft – mit Folgen für Einfühlungsvermögen und Identität.

Wie Kinderbücher Schmerz und Geschlechterrollen prägen

In Kinderbüchern zeigen Figuren Gefühle oft je nach Geschlecht unterschiedlich: So werden Mädchen häufiger mit Tränen dargestellt als Jungen. © Unsplash

Schon im Vorschulalter prägen Geschichten das Denken von Kindern. Besonders Kinderbücher formen unbewusst Geschlechterrollen, wenn sie zeigen, wie Schmerz aussieht, wer stark bleibt und wer Trost spendet. Ein Junge beißt die Zähne zusammen, ein Mädchen weint und hilft.

Die University of South Australia hat untersucht, wie Schmerz und Verletzungen in Kinderbüchern dargestellt werden. Für die Untersuchung sichtete das Team 254 Titel aus öffentlichen Bibliotheken in Adelaide. Nur etwa jedes fünfte Buch enthielt überhaupt Szenen mit Schmerzen – oft verbunden mit klaren Rollenzuschreibungen.

Jungen zeigen weniger Gefühle, obwohl sie häufiger verletzt sind

Die Studie zählte 63 Schmerzszenen und 43 Darstellungen von Verletzungen. Meist ging es um harmlose Unfälle, etwa Stürze oder blaue Flecken. Impfungen wurden nur einmal erwähnt. Chronische Beschwerden kamen lediglich in zwei Fällen vor – beide betrafen Mädchenfiguren.

Jungen litten in mehr als der Hälfte der Fälle, zeigten aber selten Gefühle. Nur 22 Prozent weinten. Meist riefen sie Wörter wie „Aua“ oder „Autsch“. Mädchen wurden in 78 Prozent der Szenen weinend dargestellt. Sie erhielten dadurch mehr Raum für emotionale Reaktionen.

Kinderbücher zeigen Hilfeverhalten entlang fester Geschlechterrollen

Auch beim Helfen ergaben sich klare Unterschiede. Mädchen wurden häufiger als tröstend und körperlich zugewandt gezeigt. Jungen dagegen gaben Ratschläge oder handelten sachlich. Die Studienautoren sehen darin eine klare Prägung: Jungen lernen, Schmerzen zu verbergen. Mädchen, für andere da zu sein.

„Wenn Jungen lernen, ihre Schmerzen herunterzuspielen, kann das langfristig negative Folgen haben“, warnen die Wissenschaftler. Wer früh unterdrückt, was weh tut, entwickelt später eher Schwierigkeiten im Umgang mit anhaltenden Beschwerden.

Die meisten Geschichten zeigen keine Hilfe – nur Zuschauer

In 60 Prozent der Szenen mit Verletzungen bleiben andere Figuren passiv. Nur 28 Prozent helfen überhaupt – meist durch Pflaster oder einfache Unterstützung. Viele Bücher zeigen nur die Hauptfigur aktiv, während andere unbeteiligt bleiben.

Für Kinder entsteht so ein Bild: Schmerz ist Privatsache. Hilfe kommt selten. Wer anderen zusieht, ohne zu handeln, übernimmt dieses Verhalten womöglich selbst.

Schmerz hat ein Gesicht und eine Farbe

In 91 Prozent der Darstellungen tauchte Schmerz in Illustrationen auf. Häufig nutzten die Bücher die Farbe Rot, verzerrte Gesichter oder gekrümmte Körperhaltungen. Schwarz und übertriebene Mimik verstärken die Wirkung. Kinder lernen auf diese Weise, Schmerz visuell zu erkennen – aber auch, wie er auszusehen hat.

Gesichtsausdrücke wie geweitete Augen, hängende Mundwinkel oder Tränen dominierten die Darstellungen. Die emotionale Verarbeitung wird so an äußere Merkmale geknüpft – vor allem für Mädchen.

Auch die Sprache folgt alten Mustern

Jungenfiguren verwendeten häufiger Wörter wie „schmerzhaft“ oder „pochen“, also Begriffe, die körperliche Schmerzen beschreiben. Mädchen sagten eher „weinen“ oder „Tränen“. Auch das festigt stereotype Zuschreibungen. Jungen bleiben sachlich, Mädchen emotional.

„Wenn Bücher Schmerz nur mit sichtbarer Verletzung zeigen, fehlt das Verständnis für unsichtbares Leid“, so die Autoren. Kinder, die etwa Angst oder Bauchweh haben, könnten dadurch weniger Gehör finden.

Eltern und Erzieher können laut den Forschern gegensteuern. Schon beim Vorlesen lassen sich gezielt Fragen stellen:

  • Wie fühlt sich die Figur gerade?
  • Was hätte ihr geholfen?
  • Hätte auch ein Junge hier weinen dürfen?

Solche Fragen fördern Gespräche über Empathie, Rollenbilder und Gefühle – ohne Belehrung, aber mit Wirkung.

Kurz zusammengefasst:

  • Kinderbücher prägen früh Geschlechterrollen: Jungen werden häufiger verletzt dargestellt, zeigen aber kaum Emotionen – Mädchen hingegen weinen und trösten.
  • Hilfeverhalten bleibt oft aus: In 60 Prozent der Geschichten reagieren Umstehende nicht, nur selten wird empathisch oder praktisch geholfen.
  • Erwachsene können gegensteuern: Durch gezielte Fragen beim Vorlesen lassen sich Empathie und offener Umgang mit Schmerz bewusst fördern.

Übrigens: Kinderbücher wie „Marin Käfer“ helfen nicht nur den Kleinen, große Gefühle zu verstehen – sie geben auch Eltern neue Impulse für einen achtsamen Umgang mit Wut, Trauer und Überforderung. Warum das Begleiten statt Bewerten kindlicher Emotionen so entscheidend ist – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Unsplash

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