Wenn Glaube heilt – und die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt
Eine Studie der Universität Bonn zeigt, wie stark Kultur und Religion das Verständnis von Gesundheit prägen – und warum Ärzte mehr Wissen darüber brauchen.
In deutschen Städten treffen ganz unterschiedliche Vorstellungen von Krankheit aufeinander – von göttlicher Prüfung bis zur Schulmedizin. © Unsplash
Gesundheit ist für viele ein sehr persönliches Thema – doch nicht für alle bedeutet sie dasselbe. In deutschen Städten begegnen sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Krankheit eigentlich ist. Für die einen entsteht sie durch Stress oder ungesunde Ernährung, für andere ist sie eine Prüfung Gottes oder ein Zeichen gestörter Balance zwischen Körper und Seele. Diese Vielfalt entscheidet oft darüber, welche Behandlung Menschen akzeptieren – und welche sie ablehnen.
Eine Untersuchung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zeigt, wie stark Glaube, Kultur und Alltagserfahrung das Verständnis von Gesundheit prägen. Ein Forschungsteam um Kevin Becker und Prof. Dr. Carsten Butsch befragte Bewohner in zwei deutschen Stadtteilen: Bonn-Tannenbusch und Köln-Mülheim. Beide gelten als besonders vielfältig – dort leben Menschen aus über hundert Nationen.
Viele Befragte verknüpfen religiöse Überzeugungen mit modernen medizinischen Ansätzen, andere greifen zusätzlich auf Rituale, Naturheilkunde oder traditionelle Heilmethoden zurück. „Im Prinzip hatte jede befragte Person eine eigene Vorstellung von Gesundheit und Krankheit“, sagt Studienleiter Becker.
Vier verschiedene Sichtweisen auf Krankheit
Die Wissenschaftler führten 18 ausführliche Interviews und entwickelten daraus vier Haupttypen von Gesundheitsbildern:
- Übernatürliche Erklärung: Krankheiten gelten als Strafe, Prüfung oder Folge übernatürlicher Mächte. Eine Befragte berichtete, ihr Mann sei krank geworden, „weil ich kein Kopftuch getragen und dadurch Gottes Zorn erregt habe“. Andere sprachen vom „bösen Blick“ oder von Geistern.
- Kombination aus Glaube und Verhalten: Religion bleibt wichtig, doch der Lebensstil spielt ebenfalls eine Rolle. Bewegung, Ernährung und Stressvermeidung gelten als Schutz, auch wenn Krankheit weiterhin als „Gottes Wille“ gesehen wird.
- Balance-Modell: Gesundheit bedeutet Gleichgewicht – körperlich, seelisch und spirituell. Inspiriert ist diese Sichtweise durch Systeme wie Ayurveda oder traditionelle chinesische Medizin. Ein Befragter erklärte: „Wenn man sich erkältet, hat man sich Kälte gegeben. Dann muss man sich Wärme geben, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.“
- Biomedizinisches Verständnis: Diese Gruppe vertraut auf Diagnosen, Medikamente und wissenschaftliche Erklärungen – sieht aber auch Stress, familiäre Konflikte oder Umweltfaktoren als Ursache für Krankheit.
Kaum jemand folgt nur einer Denkweise. Religion, persönliche Erfahrung und Schulmedizin fließen oft zusammen.
Spiritualität beeinflusst Vertrauen in medizinische Behandlung
Viele Menschen verbinden ihre religiösen Überzeugungen mit alltäglichen Handlungen. Manche beten zusätzlich zur Therapie, andere lassen sich segnen oder suchen Heilung in Ritualen. Ein junger Mann beschrieb es so: „Ob ich Verse lese oder Aspirin nehme – die Heilung kommt von Gott.“
Für Ärzte bedeutet das, dass eine erfolgreiche Behandlung auch vom Weltbild der Patienten abhängt. Wer Krankheit als göttlich bestimmt empfindet, reagiert anders auf Ratschläge als jemand, der sie auf körperliche Ursachen zurückführt. Missverständnisse entstehen leicht, und nicht selten wächst daraus Misstrauen. Manche brechen Therapien ab oder suchen erst spät ärztliche Hilfe.
Medizinische Vielfalt prägt deutsche Städte
Das Bonner Forschungsteam spricht von „medizinischer Diversität“. Gemeint ist die Mischung aus religiösen, kulturellen und wissenschaftlichen Vorstellungen, die das Gesundheitsverhalten prägt – längst Teil des Alltags in deutschen Städten.
„Viele Menschen haben Vorstellungen, die nur bedingt mit dem biomedizinischen Verständnis kompatibel sind“, erklärt Becker. Jede befragte Person habe eine eigene Definition von Gesundheit gehabt. Religiöse und kulturelle Werte beeinflussen Entscheidungen über Arztbesuche, Medikamente und Prävention. Das macht Kommunikation im Gesundheitswesen oft schwieriger.
Warum kulturelles Wissen zählt
Die Wissenschaftler empfehlen, angehendes medizinisches Personal besser auf kulturelle Unterschiede vorzubereiten. Wer versteht, wie stark Glaube das Verständnis von Gesundheit beeinflusst, kann Behandlungen klarer erklären und Vertrauen stärken.
Besonders in der Prävention spielt das eine Rolle. Impfkampagnen etwa setzen häufig voraus, dass Menschen naturwissenschaftliche Erklärungen teilen. Wer Krankheiten jedoch als Ausdruck spiritueller Kräfte sieht, den erreichen solche Botschaften anders. Deshalb schlagen die Experten neue Kommunikationsstrategien vor – etwa Schulungen für Ärzte oder Kooperationen mit religiösen Gemeinden.
Forschungsteam plant neue Wege zu einer kultursensiblen Medizin
In der nächsten Projektphase plant das Team eine große Haushaltsbefragung. Sie soll zeigen, wie weit die unterschiedlichen Gesundheitsbilder in der Bevölkerung verbreitet sind. Außerdem sind Workshops geplant, in denen Ärzte, religiöse Vertreter und Anwohner gemeinsam über Zugänge zur medizinischen Versorgung sprechen.
Langfristig wollen die Forscher auch herausfinden, wie Menschen mit Migrationserfahrung Gesundheitsangebote in ihren Herkunftsländern nutzen – und ob sie Wissen aus beiden Systemen miteinander verbinden.
Kurz zusammengefasst:
- Menschen verstehen Gesundheit sehr unterschiedlich – zwischen Glaube, kultureller Tradition und moderner Medizin entstehen ganz eigene Vorstellungen von Krankheit und Heilung.
- Eine Studie der Universität Bonn zeigt, dass diese Vielfalt das Arzt-Patient-Verhältnis stark beeinflusst und kulturelle Sensibilität im Gesundheitswesen immer wichtiger wird.
- Wer versteht, wie eng Glaube mit dem persönlichen Verständnis von Gesundheit verbunden ist, kann Behandlungen besser erklären, Vertrauen stärken und Missverständnisse in einer vielfältigen Gesellschaft vermeiden.
Übrigens: Nicht nur bei der Heilung, auch bei Mitgefühl und Hilfsbereitschaft spielt der Glaube eine größere Rolle, als viele denken. Wie Religion das Verhalten gegenüber anderen beeinflusst – mehr dazu in unserem Artikel.
Bild: © Unsplash
