Wabi Sabi: Warum uns Neubauten keine Geborgenheit bieten können

Wabi Sabi beschreibt die Schönheit des Unperfekten und Vergänglichen und steht im Gegensatz zur sterilen Gleichförmigkeit moderner Neubauten und ihrer glatten Fassaden.

Wabi Sabi

In Neubausiedlungen kommt oft kein Wohlgefühl auf, da alles gleichförmig und steril wirkt. © Unsplash

Jan Grossarth überkam ein tiefes Gefühl der Beklemmung während eines Aufenthalts in einer Neubausiedlung. Er hatte eine moderne Wohnung über eine Plattform gebucht, die all jene Annehmlichkeiten versprach, die das Leben komfortabel machen sollten: Induktionsherd, 1000 Mbit WLAN, TV-Streaming und vieles mehr. Doch als er im Neubaugebiet ankam, spürte er sofort eine seltsame Leere. Die Umgebung wirkte glatt, steril und seelenlos. Obwohl alles perfekt eingerichtet und makellos war, fehlte etwas Essenzielles. In einem Artikel für die WELT beschreibt er, wie ihn dieses Gefühl in die Bibliothek führte, wo er auf die Philosophie des Wabi Sabi stieß.

Während eines Spaziergangs durch das Viertel wurde ihm klar, was ihm Unbehagen bereitete. Die Häuser, Straßen und Grünflächen wirkten wie aus einem Guss, ohne jegliche Abweichung oder Individualität. Das Quartier strahlte eine Uniformität aus, die ihn an Möbel aus einem Katalog erinnerte – perfekt, aber ohne Leben. Kein einziges Detail wies auf die Menschen hin, die hier lebten oder leben würden. Alles schien funktional, aber austauschbar.

Die Philosophie des Wabi Sabi

Sein Gefühl der Beklemmung führte Grossarth später zu einer Entdeckung in der Bibliothek: die japanische Philosophie des Wabi Sabi. Diese uralte Weisheitslehre beschäftigt sich mit der Ästhetik des Unperfekten, Unvollkommenen und Vergänglichen. Wabi Sabi sieht Schönheit in Dingen, die nicht neu oder makellos sind, sondern die Spuren der Zeit tragen. Alte, abgenutzte Gegenstände, Gebäude mit Patina oder verwitterte Naturmaterialien gelten in dieser Lehre als besonders wertvoll, weil sie die Geschichte ihres Daseins sichtbar machen.

Wabi steht für Einfachheit und Bescheidenheit, während Sabi die Alterung und den natürlichen Verfall betont. Zusammen symbolisieren diese Begriffe die Schönheit des Reifens und Alterns. In einer Welt, die oft Perfektion und Glanz fordert, stellt Wabi Sabi eine Gegenbewegung dar. Die Philosophie schätzt das, was nicht perfekt ist, sondern gezeichnet von der Zeit und dem Leben.

Glatte Oberflächen und der Verlust von Individualität

Die Neubausiedlung, in der sich Grossarth befand, war das genaue Gegenteil dieser Philosophie. Hier war alles neu, glatt und symmetrisch. Kein Haus unterschied sich vom nächsten, keine Straße wies besondere Merkmale auf, und die gesamte Umgebung wirkte austauschbar. Das Ziel der Bauherren schien es gewesen zu sein, ein perfektes, funktionales Wohnumfeld zu schaffen, doch gerade diese Perfektion ließ den Ort leblos erscheinen. Für den Autor war diese sterile Ästhetik ein Zeichen dafür, dass hier das Leben und die Geschichten der Menschen keinen Platz hatten.

Im Gegensatz dazu steht Wabi Sabi für die Freude am Imperfekten und Individuellen. Während die Neubauten eine Illusion von Beständigkeit und Perfektion vermitteln wollten, zeigt Wabi Sabi, dass wahre Schönheit im Wandel und Vergehen liegt. Ein altes Haus, das Risse in den Wänden und abgeblätterte Farbe aufweist, erzählt mehr über das Leben und die Zeit als ein makelloser Neubau, der wie aus einem Katalog wirkt.

 „Momo“ und die grauen Männer

Während seines Aufenthalts erinnerte sich der Autor an das Kinderbuch „Momo“ von Michael Ende, in dem graue Männer die Menschen dazu bringen, ihre Lebenszeit zu sparen und sie für die Zukunft zu opfern. Diese dystopische Geschichte zeigt eine Welt, in der die Städte gleichförmig und funktional wurden, ohne Raum für Individualität oder Freude. Die Parallele zu den Neubauten, in denen er sich befand, war für ihn offensichtlich: Hier wurden Häuser errichtet, die nur einem Zweck dienten, aber keine Seele besaßen. Das Leben der Menschen in diesen Häusern schien schnurgerade bis zum Horizont zu verlaufen, ohne Raum für Kreativität oder Überraschungen.

In „Momo“ geht es darum, dass die Menschen, indem sie ihre Zeit sparen, in Wirklichkeit das verlieren, was ihr Leben lebenswert macht. Die Neubausiedlung, die der Autor besuchte, schien ihm ebenfalls eine Welt zu repräsentieren, in der Effizienz und Funktionalität Vorrang hatten, aber auf Kosten des Lebensgefühls und der Freude.

Wabi Sabi und die Kunst des Imperfekten

Wabi Sabi hingegen fordert uns auf, das Unperfekte und Vergängliche zu feiern. Die Philosophie lehrt, dass nichts im Leben für die Ewigkeit ist und dass wahre Schönheit in der Unvollkommenheit liegt. Ein altes, abgenutztes Möbelstück oder ein Gebäude, das von der Zeit gezeichnet ist, haben eine Geschichte und Tiefe, die ein neues, makelloses Objekt nicht vermitteln kann.

In der Architektur fordert Wabi Sabi dazu auf, alte Gebäude weiter zu nutzen, anstatt immer neue zu bauen. Es geht darum, das Bestehende zu schätzen und es Stück für Stück zu erhalten, anstatt es durch Perfektion zu ersetzen. In einer Welt, die auf Effizienz und Modernität setzt, wirkt diese Philosophie wie eine sanfte Rebellion gegen den Drang nach Makellosigkeit.

Das Leben im Einklang mit der Natur

Ein weiteres Element des Wabi Sabi ist die Verbundenheit mit der Natur. Die Philosophie betont, dass wir im Einklang mit der Natur leben und die Vergänglichkeit als Teil des Lebens akzeptieren sollten. In der heutigen Zeit, in der Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein eine immer größere Rolle spielen, gewinnt diese Weisheitslehre zunehmend an Bedeutung. Wabi Sabi erinnert uns daran, dass die Natur und ihre Zyklen etwas sind, das wir nicht kontrollieren oder perfektionieren können, sondern das wir in seiner natürlichen Form schätzen sollten.

Die Neubausiedlungen, die der Autor besuchte, schienen diese Verbundenheit mit der Natur zu leugnen. Alles war perfekt geplant und durchdacht, doch es fehlte die Harmonie mit der Umgebung. Die Betonung von Funktionalität und Effizienz stand im Widerspruch zu der natürlichen Schönheit, die Wabi Sabi so hoch schätzt. Für den Autor war diese künstliche Ordnung ein Symbol für das, was in der modernen Architektur oft verloren geht: der Respekt vor dem Unperfekten und Natürlichen.

Die Rückkehr zur Einfachheit

Zum Schluss bleibt die Erkenntnis, dass Wabi Sabi uns dazu aufruft, zur Einfachheit zurückzukehren. Es geht darum, alte Dinge zu schätzen und weiterzuverwenden, anstatt sie durch neue, perfekte Objekte zu ersetzen. Wabi Sabi fordert uns auf, die Schönheit im Alltäglichen zu sehen und das Unvollkommene zu akzeptieren.

Die Neubausiedlung, in der sich der Autor befand, stellte das genaue Gegenteil dieser Philosophie dar. Doch durch die Begegnung mit Wabi Sabi erkannte er, dass es genau diese imperfekte, unvollständige Ästhetik war, die ihm in der modernen Architektur fehlte. Wabi Sabi erinnert uns daran, dass das Leben nicht perfekt sein muss, um schön zu sein.

Was du dir merken solltest:

  • Wabi Sabi ist eine japanische Philosophie, die die Schönheit im Unvollkommenen, Vergänglichen und Schlichten sieht. 
  • Im Gegensatz dazu wirken moderne Neubauten oft steril und seelenlos, da sie auf Perfektion und Gleichförmigkeit setzen. 
  • Wabi Sabi lehrt, dass wahre Ästhetik in der Natürlichkeit und im Verfall liegt, nicht in glatten, neuen Oberflächen. 

Bild: © Unsplash

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