„Hausaufgaben bringen in der Grundschule wenig“ – John Hattie kritisiert überholtes Schulsystem
Überfüllte Lehrpläne, starre Strukturen: John Hattie kritisiert das deutsche Bildungssystem scharf und fordert Veränderungen.
Wie viel Stoff braucht ein guter Lehrplan? John Hattie, einer der bekanntesten Bildungsforscher der Welt, meint: weniger ist mehr. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Frage, was Schüler wirklich brauchen, um erfolgreich zu lernen. Im Gespräch mit dem Deutschen Schulportal erklärt er, warum viele Schulen seine Forschung falsch interpretieren, warum überladene Lehrpläne ein Problem sind und wie Künstliche Intelligenz (KI) das Lernen verändert.
Das Problem mit dem deutschen Schulsystem
Das deutsche Schulsystem trennt Schüler nach der Grundschule in verschiedene Schulformen wie Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Die Idee dahinter ist, dass jeder eine Förderung bekommt, die zu seinen Leistungen passt. Doch genau hier sieht Hattie ein Problem. Er kritisiert, dass diese frühe Einteilung oft Chancen verbaut.
Wenn ein Kind jahrelang nicht mit einem Gymnasiallehrplan in Berührung kommt, ist es fast unmöglich, diese Lücke später zu schließen.
John Hattie
Wer anfangs auf eine andere Schulform geht, hat es schwer, später aufzuholen.
Deshalb spricht er sich für Klassen aus, in denen Schüler mit unterschiedlichen Leistungsniveaus zusammen lernen. Ein bewährtes Konzept ist das sogenannte Peer Tutoring. Stärkere Schüler helfen schwächeren. Davon profitieren nicht nur die Lernenden, sondern auch die Helfenden. Trotzdem setzt Deutschland weiterhin stark auf Frontalunterricht. Dabei steht die Lehrkraft vor der Klasse und erklärt Inhalte, anstatt Methoden zu nutzen, bei denen Schüler aktiver mitarbeiten.
Lehrpläne sind zu vollgepackt
Ein weiteres Problem sieht Hattie in der riesigen Menge an Lernstoff. In vielen Ländern sind Lehrpläne über Jahre gewachsen und umfassen Tausende von Seiten. „Der australische Lehrplan hat 3.500 Seiten – das ist Unsinn!“, sagt er dem Deutschen Schulportal. In Neuseeland hingegen gab es für jedes Fach ursprünglich nur 39 Seiten Lehrplan. Inzwischen sind es 76, aber das sei immer noch deutlich weniger als in vielen anderen Ländern.
Seine Forderung ist, Lehrpläne zu kürzen, damit Schüler mehr Freiraum für individuelles Lernen bekommen. Schulen brauchen die Möglichkeit, sich stärker an den Interessen ihrer Schüler zu orientieren.
Ich werde oft gefragt, ob ich bei Lehrplanreformen mitwirken will. Meine Bedingung ist immer, dass die Hälfte des Lehrplans gestrichen werden darf.
John Hattie
Dabei betont er, dass es nicht darum geht, Wissen durch Kompetenzen zu ersetzen. Vielmehr brauche es beides. Wissen ist die Grundlage, doch erst durch die richtige Anwendung entsteht echte Problemlösungsfähigkeit.
Langeweile im Unterricht ist ein großes Problem
Viele Schüler finden den Unterricht langweilig. Doch Hattie warnt davor, allein auf projektbasiertes oder forschendes Lernen zu setzen, um mehr Abwechslung zu schaffen.
„Problembasiertes Lernen funktioniert nur, wenn Schüler genug Vorwissen haben“, erklärt er. Fehlt dieses, fühlen sie sich schnell überfordert. Viele Schulen wechseln jedoch zu radikal zwischen den Methoden. Erst wird nur Faktenwissen vermittelt, dann sollen Schüler plötzlich alles selbst entdecken. Stattdessen müsse man die richtige Balance finden.
Methoden funktionieren nur, wenn sie gut umgesetzt werden
Hatties Studie vergleicht, welche Unterrichtsmethoden am besten wirken. Doch er warnt davor, sich nur auf Zahlen zu verlassen. „Wenn eine Methode schlecht umgesetzt wird, hat sie keinen Effekt“, betont er.
Ein Beispiel sind Hausaufgaben. In der Grundschule bringen sie wenig, weil oft Eltern mithelfen und die Aufgaben zu schwierig sind. In höheren Klassen haben Hausaufgaben dagegen einen deutlich positiven Effekt, vor allem wenn sie das Gelernte vertiefen. Trotzdem haben viele Schulen Hausaufgaben ganz abgeschafft, weil sie sich nur an den allgemeinen Zahlen orientiert haben.
Künstliche Intelligenz ist keine schnelle Lösung
Technologie gibt es im Unterricht schon lange. Doch laut Hattie hat sie das Lernen kaum verbessert. „Seit 1976 sind Computer im Klassenzimmer, aber die Effektgrößen sind durchweg klein geblieben“, sagt er. Das Problem ist, dass Lehrkräfte digitale Medien meist nur nutzen, um Arbeitsblätter oder Bücher zu ersetzen, ohne ihre Lehrmethoden zu ändern.
Das gleiche Risiko sieht er bei Künstlicher Intelligenz. Schulen sind oft die Letzten, die sich mit neuen Technologien beschäftigen. Anstatt darüber zu reden, wie KI den Unterricht verändern könnte, wird nur darüber diskutiert, welche neuen Apps es gibt. Dabei müssten Schüler eigentlich lernen, KI sinnvoll zu nutzen.
„Das Wichtigste ist, gute Fragen zu stellen – sonst gibt KI schlechte Antworten“, sagt Hattie. Doch genau das wird in Schulen kaum vermittelt. Lehrkräfte stellen täglich hunderte Fragen, die oft nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Eine ganze Klasse stellt pro Tag dagegen nur zwei Fragen zu Dingen, die sie nicht versteht. Ein weiteres Problem ist die Qualitätskontrolle. In Klassenzimmern entscheiden meist nur Lehrkräfte, ob eine Antwort richtig oder gut genug ist. Doch mit KI müssen Schüler selbst bewerten können, ob eine Information verlässlich ist. Diese Fähigkeit wird im Unterricht jedoch kaum gefördert.
Kurz zusammengefasst:
- John Hattie kritisiert die frühe Trennung von Schülern im deutschen Schulsystem, da sie langfristige Nachteile mit sich bringt, und fordert stattdessen gemeinsames Lernen mit Konzepten wie Peer Tutoring.
- Überladene Lehrpläne erschweren individuelles Lernen, weshalb Hattie eine deutliche Reduzierung fordert, um Schülern mehr Freiraum für tiefere Auseinandersetzung mit Inhalten zu geben.
- Künstliche Intelligenz kann den Unterricht nicht automatisch verbessern, da Schüler erst lernen müssen, gezielt Fragen zu stellen und die Qualität von Antworten kritisch zu bewerten.
Bild: © Pexels