Kultur vs. Gene – Das ist der neue Motor der menschlichen Evolution

Kultur prägt die Evolution des Menschen inzwischen stärker als Gene – und könnte den nächsten großen Übergang einleiten.

Evolution auf den Kopf gestellt – Kultur schlägt Gene

Zwischen hohen Regalen und stiller Konzentration: Studierende vertiefen sich in Bücher und Wissen – Kultur als lebendiger Motor der Zukunft. © Pexels

Was macht den Menschen eigentlich aus – die Gene oder die Kultur, in der er lebt? Diese Frage klingt nach Philosophie, doch Forscher aus den USA geben ihr nun eine ganz handfeste Bedeutung. Sie argumentieren: Kultur kann unsere Entwicklung inzwischen stärker bestimmen als die Biologie. Und damit stehe die Menschheit mitten in einem Wandel, der größer sein könnte, als vielen bewusst ist.

Die Wissenschaftler der University of Maine sprechen sogar von einer „großen Transition“, also einem grundlegenden Wechsel, der nicht nur das Verhalten, sondern die Evolution betrifft. Das heißt: Kultur wird mehr und mehr zum Motor, während die Gene an Einfluss verlieren.

Kultur verändert uns schneller als Gene

Die These haben Timothy M. Waring und Zachary T. Wood in der Fachzeitschrift BioScience veröffentlicht. Beide sehen in der Kultur den entscheidenden Faktor dafür, wie sich Menschen an ihre Umwelt anpassen. „Wenn wir nützliche Fähigkeiten, Institutionen oder Technologien voneinander lernen, erben wir kulturelle Praktiken“, erklärt Waring.

Genetische Veränderungen brauchen viele Generationen. Kultur dagegen verbreitet sich innerhalb weniger Jahre oder sogar Monate. Neue Anbaumethoden in der Landwirtschaft, moderne Rechtsordnungen oder digitale Technologien – all das verändert Gesellschaften rasant und dauerhaft.

Medizin zeigt, wie Kultur Gene überholt

Besonders sichtbar wird der Unterschied im Gesundheitswesen. Brillen und Operationen korrigieren Sehschwächen, die früher ein Nachteil für die natürliche Selektion gewesen wären. Auch Kaiserschnitte oder künstliche Befruchtung machen möglich, was ohne medizinische Hilfe oft nicht denkbar wäre.

„Kulturelle Evolution frisst genetische Evolution zum Frühstück, da gibt es keinen Vergleich“, sagt Wood. Medizinische und technische Lösungen nehmen den Genen die Rolle als Filter der Natur ab – und verlagern sie in die Hände von Menschen und Institutionen.

Gesellschaft wird zum Überlebensfaktor

Immer mehr hängt das Leben eines Menschen davon ab, in welchem Land er aufwächst, welche Infrastruktur er nutzen kann und welche Gemeinschaft ihn trägt. „Was ist wichtiger für dein Leben – die Gene, mit denen du geboren wirst, oder das Land, in dem du lebst?“, fragt Waring. Seine Antwort: Kultur und Systeme wie Schulen, Krankenhäuser und Regierungen gewinnen langfristig an Gewicht.

Damit verschiebt sich der Blick auf das Überleben: Nicht mehr die individuelle Fitness entscheidet, sondern die Stärke ganzer Gesellschaften.

Kultur und Evolution machen Gruppen wichtiger

Waring und Wood vertreten die Ansicht, dass Kultur von Beginn an ein Gemeinschaftsprojekt war. Ackerbau, Städtebau, moderne Staaten – alles basiert auf kollektiven Lösungen. Fortschritte bei Lebenserwartung und Gesundheit entstanden nicht durch Gene, sondern durch geteiltes Wissen und gemeinsame Organisation.

Die Forscher leiten daraus ab: Menschen werden abhängiger von Kooperation und sind mehr auf Gruppen angewiesen. Wer überleben will, braucht ein stabiles soziales Gefüge.

Evolution auf eine neue Stufe gehoben

Die Forscher ziehen Parallelen zu früheren Übergängen in der Naturgeschichte. Einzelne Zellen schlossen sich einst zu Organismen zusammen, Insekten bildeten hochorganisierte Staaten. Bei Menschen könnte nun ein ähnlicher Sprung stattfinden – ausgelöst durch Kultur.

„Kulturelle Organisation macht Gruppen kooperativer und effektiver. Und größere, leistungsfähigere Gruppen passen sich schneller an“, erklärt Waring. Das heißt: Je größer und organisierter eine Gesellschaft, desto flexibler reagiert sie auf Krisen.

Technik verstärkt den Einfluss der Kultur

Ein weiterer Punkt: Technologien wie die Gentechnik zeigen, dass Kultur selbst das Erbgut kontrollieren kann. Doch dafür braucht es hochentwickelte Gesellschaften. In dieser Perspektive könnte die Menschheit irgendwann weniger aus einzelnen Individuen bestehen – sondern als „Superorganismus“ betrachtet werden, der vor allem über Kultur fortbesteht.

Das klingt futuristisch, aber für die Forscher ist es ein realistisches Szenario. Die Weichen seien bereits gestellt.

Forscher wollen Wandel messen

Es bleibt nicht nur bei reiner Theorie. Das Team arbeitet an mathematischen Modellen und sammelt langfristig Daten, um die Geschwindigkeit des Übergangs zu bestimmen. Gleichzeitig warnen die Wissenschaftler davor, kulturelle Entwicklung mit Fortschritt gleichzusetzen. „Wir behaupten nicht, dass Gesellschaften mit mehr Wohlstand oder Technologie moralisch ‚besser‘ sind“, sagt Wood. Kultur könne hilfreiche, aber auch brutale Lösungen hervorbringen.

Das Ziel der Forscher ist es, durch ein besseres Verständnis der Muster zukünftige Krisen zu vermeiden. Denn wenn Kultur so viel Macht über die Entwicklung des Menschen hat, ist ihre Gestaltung entscheidend.

Mensch und KI könnten zu neuer Einheit verschmelzen

Während Kultur die klassische Genetik überholt, denken andere Forscher bereits einen Schritt weiter. Paul B. Rainey vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie und Michael E. Hochberg von der Universität Montpellier sehen in der engen Verbindung zwischen Mensch und KI den nächsten großen Übergang. „Viele große Übergänge des Lebens waren mit einem Verlust von Autonomie verbunden – führten aber letztlich zu komplexeren und stabileren Organisationsformen“, sagt Hochberg.

Die Wissenschaftler vergleichen diesen möglichen Wandel mit der Entstehung der eukaryotischen Zelle, die einst aus der Verschmelzung zweier Mikroben hervorging. Denkbar sei, dass Menschen künftig Energie und Fortpflanzung bereitstellen, während KI Entscheidungen, Organisation und Informationsverarbeitung übernimmt.

Kurz zusammengefasst:

  • Kultur verändert sich viel schneller als Gene und bestimmt zunehmend, wie Menschen überleben und sich anpassen.
  • Medizin, Technik und Institutionen verlagern die Evolution vom Individuum hin zu Gruppen und Gesellschaften.
  • Forscher sehen darin einen grundlegenden Übergang – Kultur könnte der neue Motor der menschlichen Evolution werden.

Übrigens: Nicht nur Gene und Kultur verändern uns – auch Künstliche Intelligenz greift längst in den Alltag ein. Eine neue Studie zeigt, dass ChatGPT unbemerkt unseren Sprachstil prägt – mehr dazu in unserem Artikel.

Bild: © Pexels

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