Genkarten europäisch verzerrt: Warum die moderne Medizin viele Menschen genetisch übersieht
Unsere Genkarten sind Europa-lastig – und blenden Krankheitsrisiken von Millionen Menschen weltweit aus, zeigt eine neue Studie.
Fehlende Vielfalt in der Genforschung: Viele genetische Zusammenhänge gelten als gesichert – beruhen aber vor allem auf Daten aus Europa. © Unsplash
Wer heute eine Diagnose erhält oder ein Medikament verschrieben bekommt, verlässt sich auf Erkenntnisse aus der modernen Genforschung. Sie gilt als präzise, datengetrieben und global. Doch genau dieses Bild gerät ins Wanken. Denn viele der genetischen Referenzen, auf denen Medizin und Forschung aufbauen, bilden die Menschheit nur unvollständig ab. Große Teile der Weltbevölkerung kommen darin kaum vor.
Das hat Folgen. Denn Gene wirken nicht überall gleich. Sie werden unterschiedlich genutzt, unterschiedlich „abgelesen“ und produzieren je nach genetischem Hintergrund verschiedene Eiweiße. Bleiben diese Unterschiede unsichtbar, geraten auch Krankheitsrisiken, Diagnosen und Therapien aus dem Gleichgewicht. Eine neue Studie zeigt nun, wie groß diese Lücke tatsächlich ist – und warum sie bisher übersehen wurde.
Veröffentlicht wurde die Arbeit in der Fachzeitschrift Nature Communications. Sie macht deutlich: Das menschliche Genom mag entschlüsselt sein, doch die Karten, mit denen Forscher es interpretieren, sind einseitig. Sie beruhen überwiegend auf Daten von Menschen europäischer Herkunft.
Wie Forscher verborgene Gene sichtbar machten
Ein internationales Team um den Genetiker Pau Clavell-Revelles vom Center for Genomic Regulation untersuchte Blutproben von 43 Menschen aus acht Bevölkerungsgruppen. Darunter waren Probanden aus Nigeria, Kenia, dem Kongo, China, Indien, Peru sowie aus Europa.
Zum Einsatz kam eine Technik, die erst seit wenigen Jahren ihr volles Potenzial entfaltet: die sogenannte Long-Read-RNA-Sequenzierung. Anders als frühere Verfahren liest sie RNA-Moleküle vollständig aus – also jene Botenstoffe, die anzeigen, welche Gene aktiv sind und welche Proteine sie produzieren.
Das Ergebnis fiel deutlich aus. Die Forscher stießen auf zehntausende aktive Genvarianten, die in den gängigen Referenzkarten nicht verzeichnet sind. Besonders häufig traten sie bei Menschen nicht-europäischer Herkunft auf.
Die wichtigsten Befunde der Studie:
- Rund 41.000 bislang nicht erfasste Transkripte, also aktive Genabschriften
- 2.267 Transkripte, die nur in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe vorkommen
- Der größte Zuwachs neuer Varianten bei Menschen afrikanischer und südamerikanischer Abstammung
„Genkarten werden täglich genutzt, aber große Teile der Weltbevölkerung fehlen darin“, sagt Erstautor Clavell-Revelles. Die Studie zeige erstmals, wie viel biologisch relevante Information bislang verborgen geblieben sei.
Wie blinde Flecken in Genkarten Krankheitsrisiken verdecken
Diese Lücken sind kein akademisches Detail. Viele der neu entdeckten Transkripte liegen in Genen, die bereits mit Krankheiten in Verbindung stehen – etwa mit Asthma, Lupus, rheumatoider Arthritis oder Störungen des Fettstoffwechsels.
Fehlen solche Varianten in den Referenzen, gelten genetische Veränderungen dort oft als harmlos. „Wenn eine genetische Variante in einem nicht erfassten Gen liegt, nehmen wir an, sie habe keine Wirkung“, erklärt Mitautor Roderic Guigó. „In manchen Fällen ist diese Annahme schlicht falsch.“
Für die medizinische Praxis bedeutet das: Diagnosen können ungenauer ausfallen, Risiken falsch eingeschätzt werden, Therapien weniger gut greifen – nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil entscheidende genetische Informationen nie Teil der Datenbasis waren.
Warum ein einziges Referenzgenom nicht reicht
Die Forscher gingen noch einen Schritt weiter. Sie nutzten zusätzlich die individuellen DNA-Sequenzen der Studienteilnehmer als Referenz. Dadurch tauchten pro Person hunderte weitere Transkripte auf, die im Standard-Genom nicht sichtbar sind. Besonders deutlich war dieser Effekt bei Menschen afrikanischer Herkunft.
Ein einziges, universelles Referenzgenom kann die genetische Vielfalt der Menschheit nicht abbilden. Die genetische Diversität ist regional unterschiedlich verteilt – Afrika etwa weist die größte Vielfalt weltweit auf, Asien und Südamerika besitzen eigene, teils einzigartige Varianten.
Historische Gründe für eine heutige Schieflage
Dass viele Referenzen so einseitig sind, hat historische Ursachen. Als das erste menschliche Referenzgenom Anfang der 2000er-Jahre entstand, stammten die meisten Proben aus Europa und Nordamerika. Diese Auswahl prägte auch spätere Datenbanken und Gene-Kataloge.
Dabei unterscheiden sich Populationen nicht nur minimal. Kleine genetische Variationen können beeinflussen, wie Gene geschnitten, kombiniert und genutzt werden. Genau diese Prozesse entscheiden darüber, wie Krankheiten entstehen oder verlaufen.
Auf dem Weg zu einer vollständigen Genkarte
Die aktuelle Studie erzeugte mehr als zehn Terabyte an Daten und nutzte die Rechenleistung des Supercomputers Barcelona Supercomputing Center. Dort lief die Auswertung auf dem System MareNostrum 5 – ein Hinweis darauf, wie aufwendig diese Forschung ist.
Trotzdem verstehen die Autoren ihre Arbeit nur als Anfang. Untersucht wurde nur ein Zelltyp, nur wenige Dutzend Menschen, nur ein kleiner Ausschnitt der globalen Vielfalt. Und doch kamen zehntausende unbekannte Genabschriften ans Licht.
Die Forscher plädieren daher für ein sogenanntes Pantranskriptom: eine vollständige Sammlung aller RNA-Moleküle über alle Bevölkerungen, Gewebe und Lebensphasen hinweg. Erst dann lasse sich menschliche Biologie wirklich verstehen – und medizinische Forschung gerechter gestalten.
„DNA ist die Anleitung“, sagt Mitautorin Marta Melé. „Erst die Transkripte zeigen, wie diese Anleitung tatsächlich genutzt wird.“
Kurz zusammengefasst:
- Genkarten sind europäisch verzerrt: Die genetischen Referenzkarten der Medizin beruhen überwiegend auf Daten aus Europa und bilden die genetische Vielfalt vieler anderer Bevölkerungsgruppen nur unvollständig ab.
- Wichtige Genvarianten fehlen: Dadurch bleiben tausende aktive Genvarianten unsichtbar, auch in Genen, die mit Krankheiten wie Asthma, Autoimmunerkrankungen oder Stoffwechselstörungen zusammenhängen.
- Folgen für Diagnosen und Therapien: Die Studie zeigt, dass genetische Präzision davon abhängt, wer in der Forschung berücksichtigt wird – und dass inklusivere Genkarten nötig sind, um Krankheiten weltweit besser zu verstehen.
Übrigens: Während verzerrte Genkarten genetische Risiken oft unsichtbar machen, zeigt eine andere Studie, was passiert, wenn übersehene Gene wieder berücksichtigt werden – Forscher reaktivierten ein uraltes Harnsäure-Gen mit möglicher Bedeutung für Gicht. Mehr dazu in unserem Artikel.
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